Auf der Frankfurter Buchmesse herrscht Lagerfeuer-Atmosphäre beim Lesen. Foto: dpa

Binge-Reading – nächtelanges Schmökern – gab es lange bevor Streamingdienste wie Netflix das Binge-Watching – nächtelanges Serien schauen – populär gemacht haben. Das Buch kann und muss wieder zum Leitmedium werden, meint Wirtschaftsredakteur Daniel Gräfe.

Frankfurt - Wer wissen will, wie groß die Bedeutung des Buches einmal war, hört sich am besten bei jungen Serienguckern um. Für die Jüngeren sind die Folgen von Game of Thrones oder Babylon Berlin zum Leitmedium geworden – sie sind Lagerfeuer, Gesprächsstoff, Zeitfresser und Erlebnis zugleich. Also all das, was das Buch einst gewesen ist. Denn lange vor dem angesagten Dauerglotzen, dem Binge-Watching, hat es das Binge-Reading gegeben – das nächtelange Schmökern.

Binge-Reading gab es schon lange vor dem Binge-Watching

Die Buchbranche muss selbst von ihren seriellen Nachahmern lernen, um Leser zurückzugewinnen. Bei den 20- bis 50-Jährigen hat in den vergangenen drei Jahren mehr als jeder Vierte den Buchkauf gestrichen. Verlage und Buchhandlungen müssen mit einem größeren Datenschatz ebenso individuelle Angebote machen wie Netflix, Amazon & Co. Sie müssen die potenziellen Leser dort abholen, wo sie oft lieber ihre Zeit verbringen als im Lesesessel: in den sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten, bei der Dauernutzung des Smartphones.

Vieles wird schon gemacht oder ist angedacht: Es gibt Leseapps, in Buchhandlungen inszenierte Erlebniswelten, boomende Literaturevents. Verlage gründen eigene Online-Lesegemeinschaften. Auch Buchketten nutzen endlich wieder die Kompetenz ihrer Verkäufer, anstatt sie zu entlassen. Doch bei der (Wieder-)Annäherung an die Leserbedürfnisse vergeht zu viel Zeit. Andere sind schneller im Wettbewerb um die auffälligsten Geschichten, nach denen die Menschen noch immer gieren. Streamingportale bringen sie als Serie auf das Handy, die Computerbranche als Videospiel aufs Tablet. Die Buchbranche muss selbst schneller die neuen Kanäle und Geräte erobern.

Gäbe es die Buchbranche nicht, müsste man sie heute als Start-up gründen

Sie kann es mit Selbstbewusstsein tun, schließlich hat sie das Geschäftsmodell „Geschichten erzählen“ jahrhundertelang geprägt. Überhaupt sollte die Branche statt zu lamentieren, Stärke demonstrieren. Im Buchmarkt werden keine Waschmaschinen oder Autos produziert, hier geht es um Gesellschaftsstoffe und Kultur. Im besten Fall schwingt etwas Wahrheit mit, zumindest Wahrhaftigkeit. Vor allem aber liefert man Stoff für die Gehirne und Vorstellungskraft der Leser, bietet Halt und Orientierung.

Vielleicht wäre es gut, würde es wieder als Makel gelten, nicht gut lesen zu können oder nicht belesen zu sein. Gäbe es die Buchbranche nicht, müsste man sie heute als Start-up neu gründen. Damit jeder kapiert, dass Lesen mehr wert ist. Kulturell wie ökonomisch.