Menno Harms und Peter Scholz beim Forum Bildung der Stuttgarter Nachrichten. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Wozu noch alte Sprachen?, fragten die Stuttgarter Nachrichten auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium und dem Landesmuseum Württemberg. Und erhielt überraschende Antworten.

Stuttgart - Nein, das war keine Werbeveranstaltung des Altphilologenverbands. Obwohl auf dem Podium ja eine „Grundsympathie“ für Altgriechisch und Latein herrschte, wie Moderator Jan Sellner einräumte, der Ressortleiter Landesnachrichten unserer Zeitung. Und obwohl auch nicht wenige Herren in beigefarbener Cordjacke im Publikum saßen – was angeblich ein untrügliches Zeichen für weltentrückte Lateinlehrer ist, wie man im Lauf des Abends erfuhr. Aber davon später.

Philologen gaben also nicht den Ton an im Fruchtkasten des Landesmuseums Württemberg, wo unsere Zeitung die Frage stellte: „Wozu noch alte Sprachen?“. Ihr Wohlwollen brachten vielmehr Vertreter ganz anderer Berufe zum Ausdruck. Ein Elektroingenieur zum Beispiel, der noch vor wenigen Jahren den Computerriesen Hewlett Packard Deutschland geführt hat, dessen Aufsichtsratschef er heute ist: Menno Harms. Dass ausgerechnet der weltläufige Ex-Manager, ein Missionar des digitalen Fortschritts, eine Lanze für Latein brach, war wohl die überraschendste Erkenntnis für die 120 Gäste dieses Abends.

"Analytische Knobelei hat mir Spaß gemacht"

„Die analytische Knobelei hat mir Spaß gemacht“, erzählte der Stuttgarter, „aber ihren Wert habe ich damals nicht erkannt.“ Erst später habe er begriffen, dass diese Gehirnakrobatik sein methodisches Denken insgesamt schulte. Jedenfalls setzte der frühere Industriekapitän zu einer Eloge auf das Idiom der alten Römer an: Latein stimuliere gutes Deutsch, schule den Sinn für die Syntax und lehre auch, wie man eine gute Rede hält: „Docere, movere, delectare“ (belehren, bewegen, erfreuen).

Ganz so enthusiastisch zeigte sich der württembergische Landesbischof Frank Otfried July dann doch nicht. Vielleicht, weil der Theologe als Heranwachsender seine liebe Müh’ und Not mit dem Ablativ, dem Gerundium und anderen lateinischen Vertracktheiten hatte: „Ich war kein Vorzeigeschüler.“

Auf dem Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium („Ebelu“) hat er sich durch Latein und Altgriechisch gebissen, allerdings noch weit entfernt von seinem späteren Berufswunsch und -ziel. „Imprägniert“ wurde er trotzdem, sagte July, also getränkt mit humanistischen Ideen und Idealen. Und das Handwerkszeug habe er sich angeeignet, schnell Neues zu erlernen. Gibt es zeitgemäßere Bildungsinhalte?

Latein erweitert den geistesgeschichtlichen Horizont

Für Karin Winklers Ohren ist das Musik. Die Leiterin des „Ebelu“ zog alle Register, um für die Beschäftigung mit alten Sprachen zu werben. „Multivalent“ nannte sie den Lateinunterricht, weil er zur Genauigkeit anhalte, den geistesgeschichtlichen Horizont erweitere – und nicht zuletzt Ruhe ausstrahle: „Weil man sich manchmal 20 Minuten mit einem Satz beschäftigt – wo gibt es das denn noch?“

Dass ein Althistoriker ins selbe Horn stieß, überraschte die Runde nicht wirklich. Peter Scholz, Professor an der Uni Stuttgart, hält Latein für eine gute Grundlage, um weitere Fremdsprachen zu erlernen. Weil man die Wörter und Sätze nur dann entschlüsseln kann, wenn man ihre Prinzipien und Bausteine erkennt. Scholz: „Das genaue Hinblicken, das präzise Erfassen ist eine gute Schule für die Wissenschaften überhaupt.“ Der Ingenieur nickte dem Historiker zu.

Dass dies auch heute noch Spaß machen kann, bekundete Teresa Karl, eine Schülerin des „Ebelu“. „Wir beschäftigen uns im Unterricht auch mit Philosophie“, sagte die Elftklässlerin – kürzlich zum Beispiel mit der Ikarus-Sage und der Frage, was diese für die Menschen von heute bedeutet. Teresa will später übrigens keine Lateinlehrerin, sondern Juristin werden. Und neben Latein und Griechisch lernt sie auch noch Französisch: „Das bleibt dadurch besser hängen.“

Entwicklung des Fachs bereitet Anlass zur Sorge

Dass die Eidgenössisch Technische Hochschule Zürich diesen Zusammenhang kürzlich bestritt, kann Schulleiterin Winkler nicht nachvollziehen: Die Studie werde dem Bildungseffekt der alten Sprachen nicht gerecht, ist sie sicher. Es bedarf also keines Altphilologentreffens, um gute Argumente für alte Sprachen zu finden.

Und doch gibt die Entwicklung des Fachs Anlass zur Sorge. 11,8 Prozent der Fünftklässler lernten im Schuljahr 2008/2009 Latein, zitierte Moderator Jan Sellner aus einer Statistik. Im vergangenen Schuljahr waren es nur noch 7,9 Prozent. „Leicht rückläufig“ seien die Zahlen, bestätigt Schulleiterin Winkler den Trend und warnt vor einer schleichenden Erosion: Je weniger Grundschullehrer den Lateinunterricht selbst genossen hätten, desto weniger könnten sie dafür werben. Wenn dann noch die Eltern versuchten, auf dem Bildungsparcours ihrer Kinder Ballast abzuwerfen, „dann werfen sie oft das Falsche ab“. Das wäre ihrer Ansicht nach in jedem Fall die alten Sprachen.

Selbst jene, die in der Schule noch Caesar oder gar Cicero übersetzt haben (oder dies behaupten), lassen an Kenntnissen zu wünschen übrig. „Die Qualität nimmt ab“, sagt Althistoriker Scholz. Das zeige sich, wenn im Lektürekurs an der Hochschule die Stunde der Wahrheit schlägt: „Da ist Jahr für Jahr weniger Potenzial da, Cicero fang’ ich erst gar nicht an.“

Ob eine Uni das Latinum, also den Lateinnachweis, selbst für angehende Geschichts- und Französischlehrer abschaffen soll, wird zurzeit in Ländern wie Nordrhein-Westfalen diskutiert. „Unübersichtlich“ sei die Lage auf dem Hochschulmarkt, räumt Scholz ein und rät dazu, bei der Frage Latinum oder nicht keinesfalls auf die Quote zu achten.

Praktischer Zweck erschließt sich nicht sofort

Für Ballast, da ist sich die Runde einig, werden Latein und Griechisch meist deshalb gehalten, weil sich ihr praktischer Zweck nicht sofort erschließt. July plädierte dennoch dafür, sich einen „unverzweckten“ Bildungsbegriff zu erhalten. Die Gesellschaft müsse aufpassen, dass sie nicht nur die Elle ökonomischer Werthaltigkeit anlege, warnt der Landesbischof – und erntet damit lebhaften Beifall.

Auch Harms ermutigt dazu, dem Zeitgeist zu widersagen und plädiert für eine breitangelegte Schulbildung. „An den Hochschulen werden Sie vertikal so qualifiziert, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht“, ruft er den jungen Zuhörern zu. Eine horizontale, breite Grundlagenausbildung beuge auch späterer „geistiger Vereinsamung“ vor.

Die macht er übrigens auch in Vorstandsetagen aus: „Viele meiner Kollegen sind isoliert in ihren Führungszirkeln, das ist für die Gesellschaft problematisch.“ Dass Schüler immer mehr in immer kürzerer Zeit lernen sollen, räumt Harms gleichwohl ein: „Da müssen wir eben abwägen und Kompromisse schließen, aber das können wir.“

Am Ende dürfe die „praktische Intelligenz“ nicht zu kurz kommen, warf der frühere „Ebelu“-Chef Ulrich Kernen ein und erzählte eine Geschichte: Er habe erlebt, wie nach einer Veranstaltung das Publikum durch eine Flügeltür ins Freie drängte – deren rechter Flügel sich allerdings nicht öffnen ließ. Als dies einem Mann schließlich doch gelang, hört er den Ruf: „Endlich mal einer ohne Abitur!“

Da waren sie also wieder, die angeblich so weltentrückten Altphilologen. Dass sie beige Cordjacken tragen, hat übrigens jüngst ein Frankfurter Journalist in einer liebevollen Reminiszenz auf seinen Lateinlehrer behauptet. Beige Cordjacken? Doch, das komme vor, sagte Winkler über ihr Kollegium. Aber weltentrückt? „Nein, die sind alle jung, dynamisch und charismatisch.“

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