Immer mehr Flüchtlinge kommen an der spanischen Grenze an. Foto: AP

Italiens harter Kurs macht sich bemerkbar, in Spanien kommen so viele Bootsmigranten an wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Lange wurde die Entwicklung ignoriert – jetzt schrecken rechte Politiker auf.

Madrid - Der Zaun ist wirkungslos“, sagt Javier Ortega. „Wir müssen eine Mauer bauen, die hoch genug ist.“ An zehn oder zwölf Meter denkt der Generalsekretär der kleinen rechtsradikalen Partei Vox. Eine Mauer, um die „Rasenden“ abzuhalten, die immer mal wieder über den sechs Meter hohen Zaun der spanischen Nordafrikaexklave Ceuta oder der Schwesterstadt Melilla springen. Am vergangenen Donnerstag waren es gut 600, die so in Ceuta ihren Traum von einem Leben in Europa näher kommen wollten. Sie schütteten über den Grenzpolizisten der Guardia Civil Eimer mit Exkrementen oder Ätzkalk aus.  

In Spanien kommen in diesem Jahr so viele Migranten ohne Einreiseerlaubnis an wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Damals, im Jahr 2006, machten sie sich vor allem in großen Holzbooten von der westafrikanischen Küste auf den Weg zu den Kanarischen Inseln. Jetzt versuchen sie es über Ceuta und Melilla, aber vor allem in kleinen Booten von Marokko über die Straße von Gibraltar nach Andalusien. Rund 21 000 Menschen sind so in den ersten sieben Monaten dieses Jahres auf spanischem Boden gelandet, erstmals seit langem mehr als in Italien.   Es hat eine Weile gedauert, bis die Migration zu einem größeren Thema der öffentlichen Debatte in Spanien geworden ist. Als der gerade frisch gewählte sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez Mitte Juni dem von Italien abgewiesenen Rettungsschiff Aquarius die Einfahrt in den Hafen von Valencia erlaubte, murrten die einen oder anderen. Aber das war noch kein politischer Sturm.

In Migrationsfragen müsse man ehrlich sein, fordert Casado

Der beginnt sich gerade jetzt zusammenzubrauen.   Vor zehn Tagen wählte die konservative Volkspartei (PP) des früheren Ministerpräsidenten Mariano Rajoy einen neuen Vorsitzenden, den 37-jährigen Pablo Casado. Der erklärte schon vor der Wahl in einem Gespräch mit der Tageszeitung El País, wie er sich die Zukunft der PP vorstellte: „Wir müssen alles rechts von der PSOE sein.“ Die PSOE ist die Partei von Regierungschef Sánchez, und rechts von der ist eine ganze Menge Platz. Am äußeren rechten Rand bewegt sich zum Beispiel Vox, die der PP gerne Konkurrenz machen würde. Die schlug an diesem Wochenende den Mauerbau in Ceuta vor. Casado erkannte, dass er nachziehen musste.   Der junge PP-Chef hatte sich schon mit seinen Vorschlägen zu einem verschärften Abtreibungsrecht oder einer möglichen Aufkündigung des Schengen-Abkommens deutlich rechts positioniert, aber das Migrationsthema hatte er noch nicht berührt. Am Sonntag tat er es endlich. „Es ist unmöglich, dass es Papiere für alle gibt und dass Spanien Millionen Afrikaner aufnehmen kann“, sagte er. Das hatte in Spanien auch noch kein Politiker gefordert. „In Sachen Migration muss man verantwortungsbewusst und ehrlich sein, nicht populistisch“, fuhr Casado fort. Die Worte richtete er nicht an sich selbst, sondern an die Regierung.   Casado hält Ministerpräsident Sánchez vor, mit der „Aquarius“-Einladung eine „Sogwirkung“ erzeugt zu haben: Es kämen so viele Migranten nach Spanien, weil sie glaubten, dass ihnen die Einreise hier besonders leicht gemacht werde.

Diese Erklärung ist allerdings kaum haltbar. Sánchez ist erst seit dem 2. Juni im Amt, und so schnell verschieben sich die Migrantenströme nicht. Die Zahl der in Spanien ankommenden Bootsmigranten begann schon vor Sánchez Jahr für Jahr etwas zu steigen, von 2016 auf 2017 (also zu Rajoys Zeiten) verdoppelte sie sich, und allein in diesem Januar kamen mehr Menschen an als im selben Monat der drei Vorjahre zusammengenommen. Die Ursachen für die wachsende Attraktivität Spaniens sind weniger in Spanien als vornehmlich auf der anderen Seite des Mittelmeers zu suchen.   Je schwieriger die Abreise aus der Türkei und aus Libyen geworden ist, umso attraktiver wurde Marokko als Startpunkt für die Überfahrt nach Europa. Spaniens Außenminister Josep Borrell nennt diese Phänomen das „Gravitationsgesetz“ der Migration.

Migration lasse sich nicht „abblocken“, warnt Italien

Marokko liegt an der engsten Stelle der Straße von Gibraltar nur 14 Kilometer von Spanien entfernt. Bemerkenswert ist nicht, dass jetzt Zehntausende diesen Weg einschlagen, sondern dass sie es vorher in vergleichsweise geringer Zahl getan haben. Das erklärt sich in erster Linie damit, dass Marokko bisher Europas bereitwilliger Grenzpolizist war.   Außenminister Borrell ist vorsichtig bei der Analyse der Rolle Marokkos. Entweder sei das südliche Nachbarland, mit dem Spanien „keine wichtigen Probleme“ habe, von der Ankunft immer neuer Migranten „überfordert“, oder es „erleichtere“ die Ausreise gen Norden bewusst.

So oder so hält er die „italienische Haltung“ zur Migration für das größere Problem in der Europäischen Union. Die Migration lasse sich nicht „abblocken“, sondern lediglich „kanalisieren“. Die Sogwirkung, von der PP-Chef Casado spricht, ist vor allem eine politische: Die Angst vor der Migration zieht Europa nach rechts. Casado versucht gerade herauszufinden, ob ihn dieser Strudel nach oben treiben könnte.