Befreiungsschreie und Themen der aktuellen Bewegung im Iran gibt es im Film „Critical Zone“, der allerdings vor den revolutionären Ereignissen gedreht wurde. Foto: Locarno Film Festival Foto: dpa/Locarno Filmfestival

Zeigen, was der Staat nicht zeigen will. Das trifft auf den iranischen Preisträger des Goldenen Leoparden, Ali Ahmadzadeh mit seinem Film „Critical Zone“ zu. Der Hauptpreis von Locarno könnte ihm in seiner Heimat sogar zu Schutz verhelfen.

 

Einige Gäste hatten in diesem Jahr die Anreise zum Filmfestival in Locarno abgesagt. Cate Blanchett etwa, Produzentin des Abschlussfilms „Shayda“, oder Riz Ahmed, dem eigentlich ein Ehrenpreis überreicht werden sollte, waren nicht gekommen. Schuld war der Streik der US-Schauspielgewerkschaft. Dass bei der Preisverleihung am vergangenen Samstag mit Ali Ahmadzadeh ausgerechnet jener Regisseur fehlte, der für seinen Film „Critical Zone“ (im Original: „Mantagheye bohrani“) mit dem prestigeträchtigen Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, hatte allerdings andere Gründe. „Critical Zone“ wurde im Iran ohne die normalerweise erforderliche Genehmigung der Regierung gedreht, weswegen dem Filmemacher sein Visum entzogen und die Ausreise nach Locarno verweigert wurde.

Nacht mit Drogendealer in Teheran

Davon, dass das iranische Regime keinen Gefallen finden dürfte an Ahmadzadehs Film, kann man ausgehen. „Critical Zone“ entstand noch bevor dort im vergangenen Herbst die „Woman, Life, Freedom“-Revolution begann, doch all die Konflikte, Kämpfe und Themen, um die es dort geht, sind auch schon im Locarno-Gewinner zu finden. Eine Nacht lang folgt der episodische Film dem Drogendealer Amir (Amir Pousti), der in seinem Auto und begleitet von der klaren, bestimmten Stimme seines Navigationsgeräts durch ein Teheran fährt, dass es auf der Leinwand selten zu sehen gibt. Süchtige, Transgender-Prostituierte, eine verzweifelte Mutter, die ihren Sohn retten möchte, oder eine Flugbegleiterin, die Stoff aus anderen Ländern schmuggelt – für all diese Menschen, die nicht unbedingt zu dem Personal gehören, das das staatlich sanktionierte iranische Kino sonst zeigt, ist Amir weniger ein krimineller Rauschgifthändler als beinahe messianischer Heilsbringer.

Foto: Sina Ataeian Dena, iranischer Produzent, mit dem Goldenen Leoparden in Locarno für den Film „Critical Zone“ des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh, der nicht zum Festival reisen durfte. /dpa/Jean-Christoph Bott

„Critical Zone“, produziert übrigens auch mit deutscher Beteiligung, ist ein ungestümer, energiegeladener, auch enervierender und visuell eindrucksvoller Film, der für eine neue Generation im iranischen Kino steht und sehr viel weniger klausuliert als andere zeigt, warum und für wen ein radikaler Umbruch im Iran überfällig ist. Ein unverdienter Festivalgewinner ist er ohne Frage nicht – und womöglich könnte die Ehrung mit dem Goldenen Leoparden Auswirkung auf das Schicksal des Regisseurs haben. Sina Ataeian Dena, in Berliner lebender Produzent von „Critical Zone“, der zuletzt eine Verhaftung Ahmadzadehs fürchtete, sagte in Locarno jedenfalls: „Die Erfahrung zeigt, dass man im Iran umso sicherer ist, je mehr man im Rampenlicht steht.“

Soziale Ungerechtigkeit und die kapitalistischen Abgründe

Ein unkonventionelles, böses und überaus kritisches Bild der Gesellschaft zeichnet auch Radu Jude, der 2021 den Goldenen Bären der Berlinale gewann, in seinem neuen, von der anwesenden Kritik als Preis-Favorit gefeierten Film „Do Not Expect too much from the End of the World“. Die häufig sehr komische, annähernd dreistündige Geschichte der Uber-Fahrerin Angela (großartig: Ilinca Manolache) setzt Jude mit Passagen einer rumänischen Taxifahrerinnen-Komödie von 1981 zu einem Collagen-Essay zusammen, der thematisch unter anderem soziale Ungerechtigkeit und die kapitalistischen Abgründe der Gig-Economy ebenso abdeckt wie Social-Media-Irrsinn. Dazu kommt viel Freude an schlechten Witzen – und unerwartete Gastauftritte von Nina Hoss sowie Trash-Regisseur Uwe Boll. Am Ende gab es dafür den Special Jury Prize.

Preise gehen auch nach Deutschland

Aus deutscher Sicht lohnte sich in diesem Jahr auch der Blick auf die Reihe Cineasti del presente, einem zweiten Wettbewerb für Erst- und Zweitlingswerke. Gleich drei deutschsprachige Regisseurinnen waren dort vertreten, darunter die in Basel geborene Wahlberlinerin Katharina Lüdin, die für „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ unter anderem Jenny Schily und Godehard Giese gewinnen konnte und darin lyrisch-verschlüsselt von zwischenmenschlicher Kommunikation erzählt.

Ihre beiden Kolleginnen konnten die Jury noch mehr überzeugen. Die Kölnerin Katharina Huber, die mit „Ein schöner Ort“ einen kaum weniger poetischen, seltsam beklemmenden Heimatfilm in faszinierend statischen, wunderschön in Szene gesetzten Bildern gedreht hat, erhielt nicht nur den Regie-Preis, sondern Clara Schwinning auch eine von zwei geschlechterübergreifend verliehenen Schauspiel-Auszeichnungen. Die zweite teilten sich Isold Halldórudóttir und Stavros Zafeiris, die Protagonisten aus „Touched“ von Claudia Rorarius. Auch dies keine unverdiente Entscheidung: In der intimen und zum Nachdenken anregenden Geschichte der Berlinerin über die Beziehung einer Pflegerin zu ihrem im Rollstuhl sitzenden Patienten, die mit wunderschöner Kameraarbeit unsere gängigen Körper- und Sexualitätsbilder hinterfragt, sind die beiden mit viel Hingabe der Dreh- und Angelpunkt.