Franco Filippone sitzt in seinem Truck. Statt seines Namens steht „Yuppi Du“ auf dem Deko-Nummernschild. Die Komödie von Adriano Celentano wurde 1975 auf den Filmfestspielen in Cannes gezeigt. Foto: Daniel Gräfe

Fernfahrer wie Franco Filippone halten auch in der vierten Coronawelle Wirtschaft und Konsum am Laufen. Wird es ihnen gedankt?

Heilbronn - Mittwoch, 13 Uhr: An der A 81 in der Nähe von Heilbronn beginnt der alltägliche Wahnsinn. Die Raststätte Wunnenstein ist fast voll. Seit 30 Jahren fährt Franco Filippone auf deutschen Straßen, immer früher wird die zeitraubende Parkplatzsuche zur Nervenschlacht. Dieses Mal hat er Glück und steuert seinen Mercedes Actros MP 5 auf einen der letzten freien Flecken. Hinter ihm bleiben Andere suchend in zweiter Reihe stehen.

 

Ein Parkplatz ist für Filippone Wohnung, Bad und Schlafzimmer

Ein Parkplatz an der Autobahn und was es um ihn herum gibt, bedeutet für den 57-jährigen Filippone viel mehr als für die Pendler, Freizeit- und Urlaubsfahrer auf den Straßen. Der Parkplatz ist für ihn Wohn- und Schlafzimmer, Bad und Warteraum. Hier kommt Filippone müde an, möchte eine kostenlose Toilette, eine saubere Dusche und etwas Gesundes zu essen. In der frischen Luft die Beine vertreten. Etwas Ruhe. Vor allem schlafen.

Stattdessen kostet einmal Pinkeln 70 Cent, und nach der fettigen Bratwurst gibt es draußen Abgase und viel Lärm.

Zwischen 750 000 und 800 000 Lastwagen sind auf den deutschen Straßen unterwegs, fast 100 000 halten unterwegs in der Nacht. Sie liefern uns die Lebensmittel, das Sofa, den Fernseher. Medikamente. Sprit. Die Teile, die die Industrie am Laufen halten. Die Fahrer sind systemrelevant, und doch nimmt man sie selbst kaum wahr.

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Selbst als sie in der ersten Coronawelle für kurze Zeit zu den Corona-Helden zählten und begehrtes Klopapier und Masken brachten, machten die Fernsehbilder anderer die Runde, etwa jene von Pflegerinnen. Inzwischen ist es wieder wie bei jeder Autobahn-Fahrt: Man schimpft über die ausscherenden Sattelzüge, über belegte Parkplätze, Unfälle und Staus. Die Männer im Fahrerhaus bleiben unsichtbar.

Filippone öffnet die Beifahrertür, über die steilen Stufen hinauf geht es hinein. Er wirkt jünger als seine 57 Jahre, ist schlank. Irgendwie schafft er es, in einer Welt der Nicht-Bewegung, des Fast-Foods, des tagelangen Sitzens und schlechten Schlafens seinen Weg zu finden. Es ist eng. Auf dem Armaturenbrett stehen ein Modellbauschiff, einige Figuren, ein Laptop. Hinter den Sitzen eine Getränkebox und ein schmales Bett, so lang, wie der Lkw breit ist. Eine Tasche für Dreckwäsche auf der Ablage darüber, der Korb mit der sauberen darunter ist bald leer. Filippone freut sich über den Besuch, das ist gut, um nutzlose Wartezeit totzuschlagen. Es gibt zu viel davon. Dieses Mal wartet er bis zum nächsten Morgen.

Die osteuropäischen Fahrer bleiben oft Single

Seit zehn Jahren fährt er für den Schwarzwälder Spediteur Schuon, zurzeit ist er alle zwei Wochen das Wochenende zuhause bei seiner Frau. Drei Jahrzehnte ist sie schon an seiner Seite. In dieser Zeit sind die Beziehungen Dutzender Kollegen der Arbeitszeiten wegen zerbrochen. Wenn sie überhaupt noch Beziehungen hatten. Die Fahrer aus Osteuropa, die drei Monate oder länger durch halb Europa ziehen, bleiben ohnehin oft Single.

„Wenn man nicht zumindest die Wochenenden zuhause verbringen kann, klappt es mit der Liebe nicht“, sagt Filippone. „Aber wenn freitags an der Rampe die angekündigte Ware nicht kommt, dann stehe ich mit meinem Wagen vor dem Werk und muss das Wochenende über warten.“

Schnell wird klar, dass die vermeintlich kleinen Dinge große Auswirkungen haben auf das Truckerleben. Früher etwa brachten die Fahrer Waren von A nach B. Heutzutage be- und entladen sie den Sattelzug oft selbst, da die Firmen am Lagerpersonal sparen. Oft auf die neun Stunden Fahrzeit obenauf, wohlgemerkt. Meist nach ohnehin langen Standzeiten.

Manche Fahrer nehmen für die Notdurft eine Tüte in den Wagen

Da steht man zum Beispiel vor der Tür eines großen Ludwigshafener Werks und warte auf die Papiere, erzählt Filippone: Pech, wenn es regnet. Dann bekommt man eine Rampe zugewiesen, dazu eine Ameise, also einen elektrischen Hubwagen. Eigentlich ist dafür eine Einweisung vorgeschrieben, die erhält man aber nicht. Dann wartet man auf den Hallenchef. Dieser sagt dann, wo genau man alles abstellen solle, oft klingt es wie ein Befehl. Wenn es gut läuft, steht in diesen Stunden irgendwo draußen ein Dixi-Klo herum. Wenn nicht, gibt es nichts außer Teer. „Manche Fahrer legen sich deshalb aus schierer Not eine Mülltüte ins Auto.“

Franco Filippone spricht bedacht, es geht ihm um Wertschätzung. Wenn er zum Beispiel entladen will und der Kunde beachtet ihn erst einmal fünf Minuten nicht. Oder er macht nur wortlos ein Zeichen in Richtung Halle, weil er denkt, dass der Fahrer ohnehin kein Deutsch könne. „In welcher Welt leben wir eigentlich?“, sagt Filippone und lässt die Frage so stehen. „Wenn sich der tägliche Umgang nicht grundsätzlich ändert, werden wir keinen Nachwuchs mehr bekommen.“

„Frauen bekommen sie nicht in den Job“, heißt es beim Verband

Jedes Jahr scheiden in Deutschland altersbedingt 35 000 Lkw-Fahrer aus, nur 15 000 neue Fahrer kommen dazu. Bis zu 60 000 Fahrer fehlen. Auch die Berufsverbände wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Dass es nicht nur an den niedrigen Löhnen liegt, sondern auch an der schlechten Behandlung an der Rampe, am Kampf um die Parkplätze.

Dazu die schmutzigen sanitären Anlagen und Übernachtungen im Nirgendwo. Wie prekär die Lage sei, lasse sich auch daran ablesen, dass nur in jedem 50. Lastwagen eine Frau am Steuer sitze, räumt Andrea Marongiu, Geschäftsführer des Verbands Spedition und Logistik Baden-Württemberg (VSL), ein: „Frauen bekommen sie nicht in den Job.“

Inzwischen ist auch die Politik alarmiert. Für die Lieferverspätungen, die schwindende Auswahl bei den Weihnachtsgeschenken und die aus dem Takt geratene Produktion spielt auch der Fahrermangel eine Rolle.

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Was Deutschland droht, konnte man vor wenigen Monaten in Großbritannien beobachten. Viele Supermarktregale waren leer, das Benzin wurde rationiert, Fernsehbilder zeigten, wie sich an den Tankstellen einige Wartende um Benzin prügelten. „Wenn wir jetzt nicht handeln, haben wir hier in drei, vier Jahren eine ähnliche Situation“, sagt Marongiu. „Aus dem benachbarten Ausland können wir keine Fahrer gewinnen – dort fehlen ja selbst Zehntausende.“

Filippone ist mit sechs Jahren selbst aus dem Ausland gekommen, aus Italien, als Sohn von Gastarbeitern. 1970 waren die Lastwagenfahrerjobs in Deutschland noch besser bezahlt als heute. Bei Fahrten in den Süden schwang etwas Fernweh mit. Manchmal rief man in der Firma wegen einer vermeintlichen verspäteten Lieferung an und verbrachte einen Tag am Meer. Aber es waren auch Jahre, als für Gastarbeiterkinder maximal ein Hauptschulabschluss vorgesehen war, schließlich sollten sie wieder in ihr Heimatland zurück.

Filippone hat es satt, dass sein Arbeitsleben unter dem Preisdumping leidet

Filippone will die alten Geschichten nicht aufwärmen, es sei eine andere Zeit gewesen, mit starren Strukturen, meint er. Auf seine Art hat er sie Jahrzehnte später ein klein wenig mit aufgeweicht: Seine Tochter hat studiert und nun einen gut bezahlten Job: Sie arbeitet als Geschäftsführerin einer Event-Agentur. Darauf ist er stolz.

Er hat es satt, dass sein Arbeitsleben noch immer unter dem Preisdumping leidet. Mit dem Mauerfall fielen die Frachtpreise, die EU-Osterweiterung befeuerte den Billig-Trend. Mittlerweile werden auch innerhalb Deutschlands Transportdienstleistungen oft durch ausländische Speditionen erbracht. Die Auflagen kontrolliere aber keiner, wie überhaupt kaum etwas geprüft werde, kritisiert Filippone – weder Lenk- und Ruhezeiten, auch Fahrzeugsicherheit und Mindestlohn nicht:

„Meine letzte Kontrolle war im November 2010. Das schafft Schlupflöcher. Eigentlich will keiner das Billigsystem ändern, solange es irgendwie läuft – weder die Politik, noch die Automobil-, Pharma- oder Lebensmittelindustrie. Und die Verbraucher wollen es im Grunde auch nicht. Eigentlich gibt es hierzulande keinen Fahrermangel, sondern den Billigfahrermangel.“

Die Jüngeren wollen den Fahrerjob nicht mehr machen

Filippone erzählt von dem Kraftfahrerkreis, den er deshalb vor zwei Jahren gegründet hat, und streckt dabei die Arme weit aus. Mit der einen Hand erreicht er die Windschutzscheibe, mit der anderen das Bett. „Wenn die Fahrerkabine in die Arbeitsschutzverordnung aufgenommen würde, gäbe es mehr Platz, dann wäre auch eine Waschgelegenheit Pflicht.“ Und auch die Dämmung gegen den nächtlichen Lärm müsste sich verbessern.

Die Kraftfahrerkreise haben ein Positionspapier erstellt und der neuen Regierung geschickt. Sie wollen die 560 000 Berufskraftfahrer in Deutschland unterstützen. Sie kritisieren den gravierenden Lkw-Parkplatzmangel, der immer schlimmer wird, weil die Logistik schneller wächst, als neue Teerbuchten entstehen, rund 25 000 Parkplätze fehlen derzeit. Sie fordern neue Arbeitszeitmodelle, damit die Fahrer häufiger abends bei ihren Familien schlafen.

Sonst würde man keine jungen Menschen für den Beruf gewinnen, heißt es, da helfe auch der neue Mindestlohn von zwölf Euro die Stunde nichts. „Bei diesen Arbeitsbedingungen machen zwei Euro mehr keinen Unterschied“, sagt Filippone. „Unter den jetzigen Voraussetzungen würde ich den Job nicht mehr anfangen. Und jetzt ist es zu spät.“

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Wir laufen über den Parkplatz in Richtung Rasthof. Innen hat nur noch der Schnellimbiss offen – eine Folge der vierten Welle der Pandemie. Die Suche danach, welche Rasthof-Einrichtungen noch nicht verschlossen sind, wo es Toiletten und Duschen gibt, hat für Filippone wieder begonnen. Wieder fährt er durch das Corona-Wirrwarr der Bundesländer, bevor es über die Grenze in Richtung Italien geht.

Die Beschränkungen selbst fallen ihm nicht schwer. Die Welt da draußen ist für ihn meist ohnehin nur durch eine Glasscheibe zu sehen. Im Grunde genommen verläuft sein Leben schon all die Jahre wie in einer Pandemie. „Meist bin ich wie an den Lkw gefesselt. Ich steige montags in die Kabine ein und am Freitag wieder aus.“

Die erste Coronawelle in Italien war „wie in einem Weltuntergangsfilm“

Schlimm war es nur in der ersten Welle, als er viel durch das sieche Norditalien fuhr. Die leeren Autobahnen, die wenigen Lastwagen auf dem Mailänder Ring, dazu die Polizei und das Militär: „Das war wie in einem Weltuntergangsfilm.“ Er selbst durfte seinen Wagen meist nur in einem Radius von wenigen Metern verlassen. Deshalb mache es ihn fassungslos, wie lax der Umgang mit dem Virus in Deutschland sei. Noch immer gebe es an den Werken für die Fahrer keine Desinfektionsmittel, grundlegende Corona-Maßnahmen würden missachtet, kritisiert er. „Da ist alles egal – Hauptsache die Ware geht raus. Nichts hat sich in den letzten 20 Monaten geändert, auch der Umgang miteinander nicht.“

Und die Fahrer? Sie sprächen jetzt noch weniger miteinander, sagt Filippone. „Woher kommst du? Wohin fährst du? Was lädst du? Das war’s. Viele sind leider Einzelgänger.“ Auch deshalb sei nur jeder Siebzehnte in einer Gewerkschaft organisiert, meint er, und ist in Gedanken wieder bei seinem Kraftfahrerkreis. Gemeinsam könnte man das Billigsystem doch ändern. Was wohl passieren würde, wenn ein Autobauer die Teile zu spät bekäme? „Heutzutage stehen in kurzer Zeit die Bänder still. Wir Fahrer und Speditionen müssten nur einmal schnipsen, schon würden die Preise und auch die Löhne steigen.“

In zwei Tagen kann Filippone endlich zur Familie fahren

Es ist dunkel geworden. Draußen stehen Lastwagen bereits nahe der Ausfahrt und auf Pkw-Plätzen. Filippone klettert in die Fahrerkabine zurück. Den Anruf mit der Bitte, ob er nicht doch noch eine Tour übernehmen könne, nach Italien, lehnt er freundlich ab. Er will endlich nachholen, was bei anderen Alltag ist. Seine Frau küssen, gut essen, spazieren gehen, die Tochter sehen. Die Familie ist alles für ihn – die Freundschaften sind schon lange auf der Strecke geblieben. In zwei Tagen ist es soweit. Morgenfrüh um fünf Uhr geht es zum nächsten Werk weiter.