Kinder zeigen mehr den Müttern als den Vätern die Grenzen der Selbstverwirklichung auf? Foto: dpa-tmn

Wer schneidet den Kleinen die Nägel? Antonia Baum, Ralf Bönt und Anke Stelling haben im Literaturhaus über den Konflikt zwischen kreativer Arbeit und Elternschaft diskutiert.

Stuttgart - Die Fingernägel der meisten Kleinkinder werden von den Müttern geschnitten, nicht von den Vätern. In dieser Frage des Fingernägelschneidens immerhin sind sich die drei Autoren, die an diesem Abend auf dem Podium der Stuttgarter Literaturhauses im Rahmen der feministischen Reihe „I am Not“ diskutieren, doch einig. Es sind Antonia Baum, Ralf Bönt und Anke Stelling, die sich allesamt schriftstellerisch mit dem Konflikt zwischen Elternschaft und kreativem Schreiben auseinander setzen. Die „Zeit“-Journalistin Baum in ihrem Essay „Stillleben“ in gewohnt krasser Ehrlichkeit über die Veränderungen, die ein Kind im Leben der Eltern bedeutet, die Schriftstellerin Stelling in „Schäfchen im Trockenen“ darüber, wer in einer Familie für was und für wen verantwortlich ist und Ralf Bönt in „Das entehrte Geschlecht“ als Männerversteher, denn Männer wollten doch am liebsten auch alles zugleich.

Die Frage nach der Möglichkeit der künstlerischen Arbeit im Spannungsfeld von Familienpflichten und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung ist nie so aktuell gewesen wie heute, da Frauen, also Mütter, längst genau wie Männer selbstverständlich den Beruf der Schriftstellerin oder Künstlerin ergreifen und zugleich Männer sich zunehmend an der Kindererziehung beteiligen. Im weiterhin perpetuierten Mythos vom genialen Dichter kommen jedoch keine Kleinkindfingernägel vor und auch nicht die Frage danach, wie viele rote Würste der Elternbeirat für das Kindergartenfest besorgen soll.

Schatzkiste der Erfahrungen

Was also, wenn der Kopf zu voll ist, der Körper zu müde, um überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen zu können? Warum geht es dennoch weiterhin vor allem Müttern und seltener Vätern mit diesem „mental overload“ so? Und warum ist und bleibt die Mutter das „Schwein der Nation“, wie Antonia Baum meint, eine, die in der öffentlichen Debatte für alles büßen müsse, immer zu viel oder zu wenig gebe, zu reaktionär sei oder zu egoistisch? Kann nur diejenige wirklich etwas Kreatives schaffen, die in einem „Zimmer für sich allein“ (Virginia Woolfe) arbeitet, die verrückt, antisozial sein darf oder sogar soll und für keinen verantwortlich ist?

Ralf Bönt glaubt vielmehr, das Leben werde gerade durch eigene Kinder besonders „echt“ und damit umso wertvoller als Schatzkiste der Erfahrungen, aus der sich Schriftsteller bedienen. Ein Autor, meint Anke Stelling, könne sich jedenfalls nicht abschotten, könne nichts schön reden, denn das Leben sei die Grundlage seiner Arbeit. Stelling gibt zu, sie wüsste dennoch nicht, „wie ich das Familienleben ohne diese künstlerische Tätigkeit aushalten sollte.“ Das unbedingt Lebenswerte an dem alltäglichen Zwiespalt, diesem Spagat zwischen dickbauchigem, gigantischem und damit manchmal kaum erträglichem Glück und dem leisen, bisweilen unerklärlichen Umstand, dass jeder dennoch „auf seine Art unglücklich“ ist (wie Antonia Baum an diesem Abend Tolstoi zitiert), erschließt sich Kinderlosen wohl nicht. Wie viel darf eine Mutter oder ein Vater für sich selbst wollen? Träume können schließlich auch überlebenswichtig sein. Am Ende dieses Abends bleiben naturgemäß mehr Fragen als Antworten. Vielleicht führt immer alles zurück auf das „hungrige Herz“, über das Anke Stellings Protagonistin Resi nachdenkt, als sie im Autoradio den abgegriffenen Song „Everybody’s got a hungry heart“ hört, und eben der ganz banale Umstand, dass jeder eines hat. So lange es schlägt, ist es hungrig. Ein Entkommen gibt es nicht.