Er war Mitglied der Kelly Family, einer der erfolgreichsten Pop- und Folkbands der 90er Jahre. Heute feiert Joey Kelly als Ausdauersportler auch allein Erfolge. Foto: Thomas Stachelhaus

Früher bedrängten ihn hysterische Fans der Kelly Family, heute geht Joey Kelly als Sportler an sein Limit. Ein Interview über Grenzerfahrungen.

Herr Kelly,was war die größere Grenzerfahrung: Mitglied der Kelly Family zu sein oder als Extremsportler zum Beispiel 400 Kilometer durch die Wüste zu laufen?
Die größeren Grenzerfahrungen habe ich definitiv als Sportler erlebt. Aber die Zeit mit der Kelly Family war schon auch eine extreme Erfahrung. Meine elf Geschwister und ich waren viele Jahre Straßenmusiker, wir haben hart für den Erfolg gearbeitet. Dann kam 1994 der große Durchbruch – wie eine Lawine. Wir haben plötzlich nicht mehr auf dem Marktplatz, sondern in Stadien gespielt. Wir haben 20 Millionen Platten verkauft, 300 Goldene Schallplatten bekommen, sämtliche Musikpreise gewonnen. Das war schon krass. Aber wir haben uns immer gegenseitig gestützt. Das macht es leichter, solche extremen Zeiten zu erleben, als wenn man Einzelkämpfer ist.
All das Reisen, die Konzerte – haben Sie sich damals auch mal am Ende Ihrer Kräfte gefühlt?
Nein. Ich bin ziemlich belastbar. Aber ich habe Geschwister, die an ihre Grenzen gekommen sind. Nicht umsonst ist mein Bruder Paddy nach dem Ende des großen Hypes für sieben Jahre ins Kloster gegangen. Ich habe schon 1996 den Ausdauersport entdeckt und ihn immer neben der Musik betrieben. Durch die Fitness und Energie, die man bekommt, ist man auch mental stärker belastbar.
Haben Fans oft die Grenze zu Ihrem Privatleben überschritten?
99 Prozent der Kelly-Fans waren total in Ordnung. Aber es gibt dieses eine Prozent von Hardcore-Fans, die kein eigenes Leben haben. Manche kamen zu jedem Konzert, kampierten tagelang vor der Konzerthalle. Manche verfolgten den Tourbus mit dem Auto. Oder sie standen plötzlich vor unserer Tür. Einmal sind wir nach Hause gekommen, und da saß einer auf dem Sofa in unserem Hausboot. Ein anderes Mal saß sogar einer auf unserem Klo.Mit einem Fan hatten wir besondere Probleme, er war ein Stalker, er hat uns verfolgt und wollte ständig Fotos machen, die er dann an andere Fans verkaufte. Ich habe dann mit ihm geredet und ihn überzeugt, mit dem Marathon-Laufen anzufangen. Ich gab ihm meine Handynummer und wurde sein Trainer. Heute sind wir immer noch in Kontakt. Er ist mittlerweile Anwalt für Medienrecht und schützt Menschen vor dem, was er früher selbst gemacht hat.
War das Marathon-Laufen für Sie eine Möglichkeit, dem Kelly-Hype davonzurennen?
Mein Vater wollte immer, dass wir alles als Gruppe machen. Der Ausdauersport war für mich mit Mitte zwanzig die Möglichkeit, allein etwas zu erreichen. Wenn man einen Marathon läuft, fühlt man sich einfach gut, man stößt an körperliche und mentale Grenzen, die man vorher gar nicht kannte. Man schleppt sich die letzten Meter über die Linie und heult vor Stolz und Glück. Als Nächstes läuft man vielleicht 100 Kilometer, dann einen Triathlon mit Laufen, Schwimmen und Radfahren. Durch die Disziplin und die Erfahrungen bin ich erwachsener geworden.
Sie sind einen Marathon auf den Mount Everest gelaufen und in einem Jahr mal acht Iron- Man-Wettbewerbe, also Langdistanz-Triathlon. Was war die größte Grenzerfahrung in Ihrer bisherigen Sportkarriere?
2010 bin ich von Wilhelmshaven an der Nordsee durch ganz Deutschland bis zur Zugspitze gelaufen. Ich habe das in der Tradition des Überleben-Experten Rüdiger Nehberg gemacht. Ich habe nur das gegessen, was ich in der Natur fand, immer im Wald übernachtet, bin jeden Tag 50 Kilometer gelaufen. In den 18 Tagen, die ich für die knapp 900 Kilometer gebraucht habe, wurde ich 15 Kilogramm leichter. Das Extreme daran: Ich war vollkommen unterernährt, obwohl ich mich immer inmitten der Zivilisation befand. Innerhalb von ein paar Stunden hätte ich zu Hause auf dem Sofa liegen können. Das ist psychologisch eine andere Herausforderung, als wenn man zum Beispiel durch die Wüste oder den Amazonas-Dschungel läuft, weit weg von der eigenen Komfortzone.
Was lernt man bei so etwas?
Dankbarkeit für mein gutes, freies Leben in Europa. Man denkt tatsächlich an die Dinge, die einem wichtig sind: Freunde, Familie. Außerdem mache ich solche Touren ja auch, um andere Menschen und meistens auch andere Länder kennenzulernen. Das interessiert mich ungemein.
Kann das Grenzen-Austesten eine Sucht werden?
Definitiv. In meinem Fall behaupte ich aber, dass der Ausdauersport keine Sucht ist, weil es mir dann schlechtgehen müsste. Aber mir geht es gut. Das tägliche Training ist im Rahmen und gesund. Aber ich gebe zu, dass die Ultramarathon-Wettbewerbe nicht gesund sind, weil sie über die Grenze hinausgehen. Allerdings machen die Wettkämpfe selbst nur etwa zehn Prozent meiner Zeit aus.
Hatten Sie schon mal Angst?
Bei manchen Rennen schon. Zum Beispiel bei einem Wettkampf in Libyen: Es ging 300 Kilometer durch die Wüste, nonstop laufen, auch bei Nacht durchs Gebirge. Es schien kein Mond. Ich hatte nur meine Stirnlampe, und teilweise ging es auf beiden Seiten senkrecht hinunter in den Abgrund. Wenn man fällt, ist es vorbei. Man muss ruhig bleiben, man darf zwar Angst haben, aber keine Todesangst, sonst kann man nicht mehr atmen.
Denken Sie darüber nach, dass Ihr Körper Ihnen irgendwann Grenzen setzen könnte?
Sicherlich. Kürzlich stand bei einem Halbmarathon ein 72-Jähriger neben mir. Er erzählte mir, dass er seit seinem 70. Geburtstag keinen Marathon mehr läuft – sondern nur noch Halbmarathon. Ich würde auch gern 70 werden und noch Halbmarathon laufen. Aber erst mal will ich, wenn ich gesund bleibe, noch zehn Jahre lang Ultramarathon bestreiten.
Bei vielen Ihrer Wettkämpfe überqueren Sie Ländergrenzen, kommen durch Staaten mit instabiler politischer Lage. Spüren Sie das?
Vor vier Jahren bin ich zum Beispiel mit einem Freund von Deutschland in den Irak geradelt. Der Weg führte durch die Türkei, Syrien und Jordanien. Wir kamen durch viele Orte in Syrien, aus denen heute die Menschen fliehen und die zerstört sind. Damals war davon noch nichts zu spüren, aber heute wäre es lebensgefährlich, dorthin zu fahren. Was die Mensch anbelangt, die ich auf meinen Reisen treffe: Ich habe nie Ablehnung gespürt. Alle waren immer sehr nett und hilfsbereit. Ich komme natürlich auch nicht als Cowboy, der die anderen belehren will. Ich komme als Sportler, da sind die Menschen unvoreingenommen. Ich kenne das noch von meiner Zeit als Musiker. Musik und Sport können Türen öffnen.
 
Joey Kelly:

1972 wird er in Gamonal in Spanien geboren. Mit seinen elf Geschwistern ist er als The Kelly Family unterwegs, erst als Straßenmusiker, ab 1994 als eine der erfolgreichsten Bands der 90er.

Ab 2000 wird Joey Kelly zunehmend als Ausdauersportler bekannt. Er tritt unter anderem bei Stefan Raabs Wok-WM (Pro 7) an, außerdem läuft er regelmäßig Ultramarathon (mehr als 42,195 km). Unter anderem ist er 2010 Mitglied des deutschen Teams beim Wettlauf zum Südpol (400 km), 2015 legt er 441 km durch Namibias Wüste zurück.

2016 will Kelly von der Ostsee bis auf die Zugspitze laufen und sich nur von dem ernähren, was er in der Natur findet.

Kelly hat einen irischen Pass und lebt in der Nähe von Bonn.