Partner findet man über Tinder, gerne auch mehrere gleichzeitig und ein paar Kinks sind auch erlaubt: Noch nie war beim Sex so viel möglich wie heute. Trotzdem wird weniger miteinander geschlafen. Woran liegt das?
Sigmund Freud sei davon ausgegangen, dass wir uns ständig gegenseitig die Kleider vom Leib reißen würden, wenn unsere Kultur und Regeln uns nicht davon abhalten würden, sagt Juliane Burghardt. Nun werden diese Regeln lockerer – und der Sex wird trotzdem weniger. Warum das so ist, hat die Wissenschaftlerin für ihr Buch „Alles kann, nichts läuft“ aufgearbeitet.
Frau Burghardt, laut Studien in Ihrem Buch haben die Menschen heute weniger Sex als vor 15, 20 Jahren. Aber ist das überhaupt ein Problem?
Im Grunde stört es mich nicht, dass die Menschen weniger Sex haben. Auf die Zahl kommt es nicht an, wenn der Sex dann gut ist. Aber fast die Hälfte unserer Untersuchungsteilnehmer hat gesagt, dass sie gerne mehr Sex hätten. Weniger Sex ist oft ein Symptom dessen, dass wir schlechtere Beziehungen haben. Dann ist es problematisch.
Warum haben wir denn schlechtere Beziehungen?
In meinen Daten ist der stärkste positive Effekt auf die Sexualität und Beziehung, Zeit mit Freunden zu verbringen. Wir verbringen aber immer weniger Zeit mit Freunden.
Wenn ich viel Zeit mit Freunden verbringe, ist das nicht Konkurrenz für die Beziehung?
Man profitiert über Umwege. Wir sind dazu geschaffen, mit anderen Menschen zusammen zu sein, das ist unser Normalzustand, und es beruhigt unser Nervensystem. Das fehlt aber zunehmend, weil wir mehr über digitale Medien kommunizieren, uns nicht sehen, die Stimme nicht hören. Außerdem gehe ich davon aus, dass Freunde uns davon abhalten, über negative Dinge nachzudenken. Der Partner oder die Partnerin kann die fehlenden freundschaftlichen Kontakte nicht ausgleichen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Grund, warum wir mehr Depressionen und mehr Stress sehen. Und das führt letztlich auch zu Unzufriedenheit in der Beziehung und weniger Sex.
Das Problem ist also unser Smartphone?
Wenn Menschen das Handy nutzen, um mit anderen in Kontakt zu bleiben und das als Anreiz sehen, sich zu treffen, ist das perfekt. Aber wir haben in unseren Daten gesehen, dass die Leute in den letzten Jahren mehr am Smartphone sitzen und eben deswegen weniger persönlichen Kontakt zueinander haben.
Was hält uns noch davon ab, öfter miteinander zu schlafen?
Zentral ist wahrscheinlich die Erkenntnis, dass Frauen bei der Sexualität oft nicht gut wegkommen. Frauen haben substanziell weniger Orgasmen als Männer. Viele Männer wissen etwa nicht, wo die Klitoris ist, beim G-Punkt ist sich auch die Wissenschaft uneinig. Wenn wir auf so basaler Ebene nicht wissen, wie die Anatomie der Frau aussieht, ist es schwierig, guten Sex zu haben. Aus finanzieller Sicht brauchen Frauen keine Männer mehr. Wenn dann der Sex zugleich nicht sonderlich spaßig ist, dann sehe ich nicht viel Grund für Frauen, sich darauf einzulassen.
Männer müssen also liefern, mehr über die sexuellen Bedürfnisse von Frauen lernen?
Schon. Aber die Frauen sind Teil des Problems, wenn sie sagen, „ich brauche jetzt keinen Orgasmus“. Sie täuschen auch öfter Orgasmen vor und das kommuniziert auch: Im Grunde ist alles okay. Wir Frauen müssen uns selbst ausprobieren, und dann kommunizieren und einfordern, was uns gefällt. Manchmal müssen wir einfach sagen: „Fass mich da und dort an, das funktioniert.“
Die Sexualforscherin
Forscherin und Autorin
Juliane Burghardt (40) ist in Greifswald aufgewachsen und hat Psychologie etwa in Trier, Heidelberg und Kalifornien studiert. Derzeit forscht sie an der Karl-Landsteiner-Privatuniversität im österreichischen Krems zu Einflussfaktoren auf die Häufigkeit von sexueller Aktivität.
Buch
Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse verarbeitete Burghardt zu dem Buch „Alles kann, nichts läuft“. Für weitere Studien sucht sie Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter www.kl.ac.at/de/studie.