Hans Martin Bury in seinem Berliner Konferenzraum Foto: Reiner Pfisterer

Er räumte Probleme weg, bereitete Strategien vor, hielt die Stellung: Der Bietigheimer Hans Martin Bury hat als Staatsminister den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder beraten. Heute lebt er als Kommunikationsberater in Berlin.

Berlin/Bietigheim - Sein Gesicht ist jung, sein Haar grau wie der Nachmittag in Berlin. Draußen am Schiffbauerdamm fegt ein kühler Wind über die Spree, drinnen wärmen alte Geschichten. Hans Martin Bury sitzt in einem Konferenzraum und begegnet sich selbst. Er redet über den Politiker, der er einmal war. Früher stand er oft im Rampenlicht. Jetzt fühlt sich das irgendwie seltsam an. Er hat lange kein Interview mehr gegeben.

Im Konferenzraum stehen Ledersessel um einen ovalen Tisch, an dem für gewöhnlich eckige Probleme gelöst werden. Bury ist hier der Chef. Seit vier Jahren arbeitet er als Managing Partner bei Hering Schuppener, dem führenden Kommunikationsberater, wenn es um Fusionen und Übernahmen geht. 32 große Deals mit deutschen Firmen hat das Unternehmen im vergangenen Jahr begleitet, der Gesamtwert der Transaktionen lag bei 42 Milliarden Euro.

Vor dem Fenster putzen sich Tauben auf den steinernen Visitenkarten der Geschichte. Der Admiralspalast wartet auf Kundschaft. In den Goldenen Zwanzigern stand das Amüsierquartier an der Friedrichstraße für den expressiven Vergnügungsrausch Berlins. Die alten Zeiten kommen wieder. An der Fassade wirbt ein gewaltiges Plakat mit Karikaturen von Politikern für ein Kabarettprogramm. Die Politiker stapeln sich. Unten Wolfgang Schäuble, darüber Sigmar Gabriel und ganz oben Jürgen Trittin.

Schlüsselposten in der Machtzentrale

Wahrscheinlich hätte Hans Martin Bury heute einen Platz auf dem Plakat, wenn er im Politzirkus geblieben wäre, in dem sich manche wie Artisten verbiegen und andere ihr Rückgrat eher durchgedrückt lassen. Er gehört zur zweiten Fraktion und hat es trotzdem bis ganz nach oben geschafft, als Staatsminister ins Kanzleramt. Kanzler Schröder hatte dem jungen Genossen aus Bietigheim 1999 – für viele ziemlich überraschend – die Schlüsselposten in seiner Machtzentrale angeboten, auf die ein halbes Dutzend altgedienter Sozis aus waren.

Der „Spiegel“ schrieb damals von „der märchenhaftesten Karriere der rot-grünen Ära“. Lange her. Hans Martin Bury, 47, zuckt mit den Achseln. „Angesichts solcher Superlative kann ich nur Papst Johannes XXIII. zitieren“, sagt er: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“

Vielleicht ist das sein Erfolgsrezept gewesen in der Ära Schröder, von dem es heißt, dass er ein feines Gespür für potenzielle Königsmörder hatte. Gesegnet mit der seltenen Gabe des lautlosen Strippenziehens, unterschied sich Bury nicht nur optisch von seinem Vorgänger, dem gewichtigen Kanzleramtsminister Bodo Hombach. Bury räumte Probleme weg, bereitete Strategien vor, hielt die Stellung, wenn sein Chef im Urlaub weilte. Das alles erledigte er im Duktus einer bewährten Devise aus seiner schwäbischen Heimat: Des verträgt’s Schnaufen net!

Entschlossen zieht er ins Rennen

Dabei war „der Martin“, wie ihn die Parteifreunde in Bietigheim nennen, wo er 1966 das Licht der Welt erblickte, zu Anfang seiner politischen Karriere kein Leisetreter. Er sprühte vor Ideen und ließ die Welt reichlich daran teilhaben. Er war jung, er war frech, und er war gut.

Nach dem Abitur am Wirtschaftsgymnasium studierte er 1985 Betriebswirtschaft an der Berufsakademie in Stuttgart. Das entsprach seinem Wesen, alles möglichst praxisnah, gewissenhaft und schnell zu machen. In seiner Studienzeit trat er in die SPD ein, weil ihm Chancengleichheit und Gerechtigkeit am Herzen lagen und er eine emotionale Nähe zu Willy Brandt und Helmut Schmidt spürte. Bury übernahm den Vorsitz des Juso-Kreisverbands und wurde Stadtrat in Bietigheim. Sein Geld verdiente er nach seinem Abschluss als Vorstandsassistent in der Ludwigsburger Volksbank.

Eigentlich wollte er dort auch bleiben, und wäre da nicht dieses Wochenende mit zwei Kumpels am Bodensee gewesen, wer weiß? Sie saßen damals anno 1989 in Meersburg zusammen und sprachen über die anstehende Wahl und darüber, dass sie in ihrem heimischen Sprengel keiner der SPD-Kandidaten so richtig überzeugte, was die anstehende Stimmenernte für die jungen Genossen ziemlich erschwerte. Da kam in geselliger Runde die spontane Idee auf, es doch selbst zu machen. Weil Bury der Einzige von den dreien war, der bereits fertig studiert hatte, fiel die Wahl auf ihn.

Es knirscht im Gebälk der Genossen

Entschlossen zog er ins Rennen, ohne Dünkel, geradeheraus und frisch. Das kam an bei den Leuten. Bury ließ die lokalen Mitstreiter hinter sich. Allerdings postierten ihn die Parteifreunde für die Bundestagswahl chancenlos auf dem letzten Platz ihrer Landesliste. Der Jungspund konterte auf seine Art, indem er kurzerhand und verwegen zur Kampfkandidatur auf Platz drei ansetzte und eine fulminante Rede hielt. Es knirschte im Gebälk der Genossen, und am Ende ging ein Raunen durch den Saal. Der Newcomer hatte sich durchgesetzt und zog mit 24 in den ersten gesamtdeutschen Bundestag ein.

Schon damals empfand er die Politik nur als Gefährtin auf Zeit. Andere sahen das anders, was ihm bewusst wurde, als er damals – noch in Bonn – in den Zirkeln der Macht ankam. Hans-Jochen Vogel bat die Neuen um eine kurze Vorstellung, und fast alle redeten davon, mit dem Mandat als Krönung ihrer Laufbahn endlich am Ziel zu sein. Bury empfand das anders und sprach es auch aus: „Ich bin erst am Anfang.“

Er sollte recht behalten. Der Banker aus Bietigheim ließ immer wieder aufhorchen, wurde wiedergewählt, machte sich einen Namen als Wirtschaftsexperte, der Umsatz und Grundsatz zu vereinen sucht. Das blieb Gerhard Schröder nicht verborgen, der ihn ins Kanzleramt holte. Bury kann sich noch gut an den Anruf erinnern, er war gerade in Bietigheim. „Ich könnte mir vorstellen, dass du das machst“, sagte Schröder. „Ich mir auch“, antwortete keck der Kandidat.

Der 11. September 2001 bringt alles ins Wanken

Als Staatsminister klopften ihm die einen auf die Schultern, die anderen lästerten hinter seinem Rücken. Hajo Schumacher beschrieb ihn im „Spiegel“ so: „Bury gehört zur Sorte Volksvertreter, die man zugleich achten und fürchten muss. Achten, weil sie besser sind als der Durchschnitt, fürchten, weil sie so superperfekt sind, dass etwas nicht stimmen kann mit ihnen.“

Natürlich war er nicht perfekt. Aber er machte seinen Job perfekt geräuschlos in einer schreiend lauten Zeit. Der 11. September 2001 brachte alles ins Wanken. Bury war mittendrin im politischen Geschäft, in dem sich wahre Größe manchmal im Kleinen offenbart. Einmal lief Schröder zu Fuß an Handwerkerfrauen aus dem Osten vorbei, die sich seit Tagen vor dem Brandenburger Tor im Hungerstreik befanden, weil ihre Firmen nach der Wende in Not geraten waren. „Der Martin soll sich darum kümmern“, sagte der Boss. Bury übernahm den Auftrag und half den Familien, so gut er konnte.

Es gibt viele, die Macht einmal geschmeckt haben und diesen Geschmack nie mehr loswerden. Bury, zwischenzeitlich Staatsminister für Europa, wollte noch andere Geschmacksnoten für sich entdecken. Als das Ende von Rot-Grün nahte, verkündete er nach vier Legislaturperioden überraschend seinen Abschied. Bewusst vollzog der Betriebswirt nicht nur den Berufs-, sondern auch den Ortswechsel. Er legte alle Ämter nieder und heuerte in Frankfurt bei der US-Investment Bank Lehman Brothers an, die 2008 infolge der Finanzkrise Insolvenz anmeldete. Es gibt angenehmere Aufgaben, und Hans Martin Bury fand sie bei Hering Schuppener Consulting, wo er heute nach außen ähnlich lautlos arbeitet wie zu seiner Zeit als Staatsminister im Kanzleramt.

Er hat sein Gespür für wichtige Themen konserviert

Er lebt jetzt mit seiner Frau in Berlin, der Sohn studiert. „Vermissen Sie nicht die Politik?“, wird er oft gefragt. „Persönlich nicht, grundsätzlich schon“, antwortet er dann. Beharrlich widersteht er der Versuchung, das aktuelle Politgeschehen öffentlich zu bewerten. „Wenn ich Politik kommentieren wollte“, sagt Hans Martin Bury, „dann wäre ich Journalist geworden oder Politiker geblieben.“

Konserviert hat er das Gespür für wichtige Themen und den Sinn für das, was immer gilt. Bury versucht seine Gesprächspartner aus den Chefetagen großer deutscher Unternehmen dafür zu sensibilisieren, dass nicht nur die Bewertungen des Kapitalmarkts das Handeln bestimmen. Er hat dafür gute Argumente. Man könnte ihm stundenlang zuhören.

Draußen pulsiert der Hauptstadtverkehr. Der Staatsminister a. D. zupft an seiner Krawatte. Er hat noch einen Termin. Achtlos schlendert er vorbei am Plakat mit den Politikern der Gegenwart. Einige von ihnen sehen aus, als hätte sie die Zeit zurückgelassen. Bei Martin Bury ist es anders. Er hat die Zeit zurückgelassen.