Sven Krauß fuhr einst für das Team Gerolsteiner. Nun schaut er mit besonderem Blick auf die Lebensbeichte des Tour-de-France-Siegers – weil er zu denen gehört, die sich von den Dopern hintergangen fühlen.
Es hätte viel zu diskutieren gegeben am Ende eines höchst bemerkenswerten Radsport-Jahres. Über die unglaubliche Dominanz des Teams Jumbo-Visma, das durch Primoz Roglic (Giro), Jonas Vingegaard (Tour) und Sepp Kuss (Vuelta) alle drei großen Landesrundfahrten gewonnen hat. Über den spektakulären Wechsel von Roglic zum deutschen Rennstall Bora-hansgrohe. Oder über den bevorstehenden Sommer 2024, in dem sich die Superstars Vingegaard, Pogacar, Roglic und Evenepoel bei der Tour de France einen heroischen Vierkampf liefern wollen. Doch stattdessen sorgte zuletzt ein anderer für Schlagzeilen. Ein Ex-Profi, dessen Geschichte immer noch polarisiert. Ein Athlet, der absolute Höhepunkte und tiefste Abgründe erlebt hat. Ein Mann, dessen Namen gleichermaßen für die Faszination wie die Perversion des Radsports steht.
Anfang Dezember ist der einzige deutsche Tour-Sieger 50 Jahre alt geworden. Ein paar Tage vorher erschien die große Dokumentation über sein Leben. „Jan Ullrich – Der Gejagte“ zeigt in vier Episoden (bei Amazon Prime) in teilweise beeindruckenden Bildern Aufstieg und Fall des Extremsportlers, die Orte seiner Triumphe und persönlichen Niederlagen, seinen Weg vom gefeierten Helden zum Alkohol- und Drogenabhängigen. Und seine Rechtfertigungen vor sich selbst. Jan Ullrich gewährt tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt, und am Ende des 200 Minuten langen Werks steht eine Entschuldigung. Der Mann, der jahrelanges Doping mit Epo und Eigenblut immer damit verteidigt hat, niemanden betrogen zu haben, erklärt nun, dass er bei seiner Auslegung von Lug und Trug stets nur an die Konkurrenten gedacht habe, nicht an seine Fans. „Das ‚niemand‘ war falsch im Nachhinein“, sagt er jetzt. Und: „Sicherlich gab es auch einige Fahrer, die nichts Medizinisches gemacht haben – bei denen muss ich mich ebenfalls entschuldigen.“
Ullrich und Krauß gemeinsam beim Giro 2006
Nach dem letzten Satz der Dokumentation, die an manchen Stellen wirkt wie eine Inszenierung, greift Sven Krauß zur Fernbedienung. Sein Blick geht ins Leere, während Ullrichs Gesicht vom Bildschirm verschwindet. Die Erinnerung lässt sich nicht so einfach ausschalten. Auf die Frage, ob er die Entschuldigung annehme, zuckt Krauß mit den Schultern. „Ist ja auch egal, es ändert ohnehin nichts mehr“, sagt er und fügt in einer Stimmlage, die zwischen Gleichgültigkeit und Verbitterung schwankt, hinzu: „Ich habe zu denen gehört, die von den Dopern betrogen worden sind.“
Auch Sven Krauß (40) war Radprofi. In der Jugend fuhr er für den RSV Öschelbronn, zwischen 2003 und 2008 für das Team Gerolsteiner. Es gibt nicht viele Rennen, die er gemeinsam mit Jan Ullrich bestritten hat, eines war der Giro d’Italia 2006. Regelmäßig trafen sich die beiden in den Bergen im Gruppetto. Sven Krauß kämpfte „ums Überleben“, Jan Ullrich, der auf der elften Etappe das Zeitfahren gewann, arbeitete an seiner Form für die Tour. „Wir konnten zuschauen, wie er während der Rundfahrt mehr und mehr zur Maschine wurde“, sagt Krauß. Allerdings gab es schon in Italien erste Gerüchte, Ullrich würde auf der Kundenliste des spanischen Blutdoping-Spezialisten Eufemiano Fuentes stehen. Einen Tag vor der Tour 2006 wurde der Superstar von seinem T-Mobile-Team suspendiert. Er kehrte nie wieder in den Radsport zurück.
Es gab keine Chancengleichheit
Und doch dauerte es 17 Jahre, ehe Jan Ullrich gestand, tatsächlich ab 1996 und damit auch beim Tour-Sieg 1997 gedopt zu haben – logischerweise tat er dies bei einer PR-Veranstaltung für die Dokumentation. Nicht geändert hat sich seine Erklärung. „Ich war jung und naiv und kam in ein bestehendes System“, sagt er in einer der Episoden, „hätte ich nicht mitgemacht, wäre meine Karriere zu Ende gewesen.“
Als Sven Krauß diesen Satz hört, schüttelt er den Kopf. Und kämpft mit den Emotionen. Denn er weiß, dass es sehr wohl anders gegangen ist. Weit weniger erfolgreich zwar, aber eben sauber. Die Frage, was für ihn möglich gewesen wäre, hätte es mehr ehrliche Fahrer gegeben, wird nie zu beantworten sein – das schmerzt immer noch. Sven Krauß hatte nicht das Talent zum Seriensieger, für die Berge war er zu groß und zu schwer. Aber er konnte richtig tief gehen, sich quälen, manchmal bis ins Delirium. Alles andere? Ist Spekulation. Oder doch nicht? Er sagt: „Ich bin überzeugt, dass es in meiner Zeit in der World-Tour einige Fahrer gab, die nur deshalb keine Stars geworden sind, weil sie bei der Doperei nicht mitgemacht haben. Es gab keine Chancengleichheit.“
Sven Krauß hatte das Glück, die richtigen Werte vermittelt zu bekommen. Erst von seinem Vater, dann in der Jugend von Landestrainer Hartmut Täumler, der bei Lehrgängen die Mülleimer kontrollierte. Er war gefestigt, als er bei seiner ersten Einladung durch den Bund Deutscher Radfahrer 1996 einen Briefumschlag mit (noch harmlosen) Tabletten und Pülverchen auf seinem Bett fand, und er lehnte ab, als ihm 2007 beim Giro der italienische Gerolsteiner-Arzt anbot, seinen niedrigen Testosteronwert in leistungsadäquate Bereiche zu pushen. Entsprechend locker konnte er es über sich ergehen lassen, als ihn in den Jahren 2007 und 2008 jeweils mehr als 30-mal Dopingtester besuchten: „Ich hatte das Gefühl, als würde ein Trottel gesucht, der als Bauernopfer taugt.“
Sven Krauß: „Dieses Selbstverständnis ist pervers“
Es war die Zeit nach Jan Ullrich. Nach Lance Armstrong. Nach Marco Pantani. Nach Bjarne Riis. Nach Richard Virenque. Die Zeit nach den Profis, die sich zu Siegen gedopt und alle dieselbe Ausrede hatten – zu unerlaubten Mitteln gegriffen zu haben, weil alle es taten. „Dieses Selbstverständnis ist einfach nur pervers“, sagt Sven Krauß. Und wurde für manche zur tödlichen Gefahr.
Marco Pantani starb 2004 an einer Überdosis Kokain, auch Jan Ullrich wurde süchtig nach hartem Alkohol und Drogen. Nun hofft der tief gefallene Held, mit 50 Jahren in die Normalität zurückkehren zu können, in der Sven Krauß längst lebt. Er wohnt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer Neubauwohnung im Stuttgarter Norden, ist Geschäftsführer eines Elektro-Handwerksbetriebs mit 25 Mitarbeitern in Deckenpfronn im Kreis Böblingen. Und mit sich im Reinen. „Ich habe alle meine großen Rundfahrten – zweimal die Tour, viermal den Giro – nur mit Kampfgeist und eisernem Willen beendet. Ich bin stolz auf meinen Weg“, sagt der frühere Radsportler: „Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste.“