Aufwendig inszenierte Rathausstürme, Prunkfestsitzungen, die abendfüllend vom SWR übertragen wurden, und Karnevalsumzüge mit Zehntausenden Zuschauern waren früher in Esslingen in Faschingszeiten an der Tagesordnung. Geblieben sind schöne Erinnerungen.
Wenn in diesen Tagen die närrischen Wellen hochschlagen, werden bei vielen Esslingerinnen und Esslingern wehmütige Erinnerungen wach. Denn die Stadt galt lange Zeit als Karnevalshochburg. Unvergessen sind die aufwendig inszenierten Rathausstürme, die Prunkfestsitzungen, die abendfüllend aus der Stadthalle vom Fernsehen übertragen wurden, und die großen Karnevalsumzüge. Heute backt das närrische Volk in Esslingen kleinere Brötchen. Einem Karnevalisten wie Michael Gutwein tut das in der Seele weh. Als Sitzungspräsident hat er in Esslingen durch viele (Fernseh-) Prunkfestsitzungen geführt. Wenn er an diesem Sonntag mit der Schwäbischen Fasnet im SWR moderierend auf Sendung geht, steht er in Donzdorf vor den Kameras. Was einst in seiner Heimatstadt geboten war, hat er aber nicht vergessen.
Heiterkeit und Frohsinn
Wer an Esslingens ruhmreiche Faschingsvergangenheit denkt, kommt an der Karnevalsgesellschaft Zwieblingen nicht vorbei. Die war 1905 gegründet worden, „um Heiterkeit und Frohsinn zu pflegen“. Und auch wenn den Esslingerinnen und Esslingern das Lachen im Ersten und Zweiten Weltkrieg vergangen war, hat sich die Narretei am Ende immer wieder durchgesetzt. Mitte der 1950er-Jahre feierten die Zwieblinger ihre ersten großen Faschingsveranstaltungen nach dem Krieg in Kugel’s Saal in der Bahnhofstraße. Und mit den Fastnachtsumzügen wurde 1956 und 1958 eine alte Tradition neu belebt. Die Freude währte damals allerdings nur kurz, wie Gutwein weiß: „Leider überstiegen die finanziellen Belastungen der damaligen Umzüge die Möglichkeiten des kleinen Vereins.“ Fortan wurde wieder in kleinerem Rahmen im Alten Rathaus Fasching gefeiert.
Als 1968 die neue Esslinger Stadthalle eingeweiht wurde, fanden die Zwieblinger einen angemessenen Platz für größere Prunkfestsitzungen, die mit jedem Jahr mehr zum gesellschaftlichen Ereignis wurden. Wer etwas auf sich hielt, war dabei. Sehen und gesehen werden hieß die Devise. Das galt umso mehr, als das Fernsehen die närrische Metropole am Neckar für sich entdeckte und die landesweiten Faschingssitzungen im jährlichen Wechsel aus Esslingen und Gundelsheim übertrug. Da buhlten selbst prominente Esslingerinnen und Esslinger, denen das närrische Gen nicht in die Wiege gelegt worden war, um einen Platz in der ersten Tischreihe – immer in der Hoffnung, von den Kameras möglichst prominent ins Fernsehbild gerückt zu werden.
Der flotte Hugo zieht vom Leder
Viele von denen, die damals dabei waren, denken noch gern an große Momente in der Stadthalle. Die Tanzmariechen und -garden der Karnevalsgesellschaft Zwieblingen, die bundesweites Ansehen genossen, ließen die Beine fliegen. Büttenredner wie Manfred Zinner, Gerd Fingerle, Jogi und Willi Hemminger, die „dene Glufamichl aufm Rathaus“ als Büttel die Leviten lasen, Horst Seeg als „Der flotte Hugo“, Paula Hippler als Zwiebel-Päule und natürlich Manfred Klinger als frech-frivole Emilie Pfeifenstengel aus dem Spritzengässle sorgten für Heiterkeit. Sogar die US-Army war jahrelang mit ihren Militärkapellen dabei. Michael Gutwein legte gerne mal die Sitzungspräsidenten-Kappe ab und zeigte in einer Esslinger Version des „Aktuellen Sportstudios“ sein Talent als Stimmenimitator. Und mit der Schlappsi-Musigg aus Tuttlingen machte Gutwein – anfangs gegen manche Widerstände – die alemannische Guggenmusik in Esslingen salonfähig.
So hätten der damalige Zwieblinger-Präsident Gerd Worbach und seine Mitstreiter gerne noch lange weitergemacht. Doch die Stadt drehte irgendwann den Geldhahn zu, und anstelle der Stadthalle, in der Veranstaltungen noch kostengünstig machbar waren, gab’s plötzlich das Neckar Forum, dessen Miete viele Veranstalter vor unüberwindliche Hürden stellt. Bald war’s mit den Fernseh-Aufzeichnungen vorbei. Wenn die 1998 gegründeten Esslinger Karnevalsfreunde heute zur närrischen Prunkfestsitzung einladen, schunkelt man nicht mehr im Neckar Forum, sondern in der Gemeindehalle in Altbach. Und der Faschingsverein Zwieblingen, der sich nach der Auflösung der alten Karnevalsgesellschaft Zwieblingen gegründet hatte, feiert fürs erste in kleineren Sälen.
Als der OB auf einem Elefanten ritt
Als überzeugter Esslinger hofft Michael Gutwein, dass es dabei nicht bleibt. Er träumt vom Comeback des traditionellen Rathaussturms, der früher Tausende auf den Rathausplatz gelockt hatte. Jedes Jahr mussten sich die Rathaus-Chefs die tollsten Verkleidungen einfallen lassen, um dem närrischen Volk zu entkommen, das für ein paar Tage das Regiment im Rathaus übernahm. Vieles ist bis heute unvergessen – etwa die kühne Flucht des damaligen Oberbürgermeisters Eberhard Klapproth, der mal vom Rathausbalkon sprang, ein andermal auf einem Elefanten davonritt. Nur einen Ritt auf einem Kamel, der ihm mal angetragen wurde, hat Klapproth kategorisch abgelehnt.
Den meisten Zulauf hatten die Zwieblinger jedoch mit ihren Karnevalsumzügen, die bis nach der Jahrtausendwende im Idealfall alle zwei Jahre stattfanden. Oft waren 75 und mehr Masken-, Garde- und Musikgruppen am Start, 60 000 bis 80 000 Zuschauer entlang der Strecke waren keine Seltenheit. Einmal wurde sogar die 100 000-Zuschauer-Marke geknackt. Doch auch da wurde der Enthusiasmus der Narren oft genug vom fehlenden Geld gebremst. „So etwas ließ sich nur finanzieren, wenn der Umzug nicht nur der Stadt, sondern auch den Zuschauern etwas wert war“, erinnert sich Michael Gutwein. „Und daran hat’s oft gefehlt. Wir haben zwar Einlasskontrollen gemacht und die Zuschauer um einen Beitrag gebeten. Aber wenn so gut wie jeder erklärt hat, er wolle gar nicht zum Umzug, sondern nur nach Hause und deshalb nichts bezahlen, blieb hinterher halt ein Minus übrig. Man hätte meinen können, dass 50 000 Menschen in der Altstadt wohnen – so viele wollten sich um einen Obolus herumdrücken.“
Würde sich in Zeiten erklärter Bemühungen um eine Innenstadtbelebung ein Karnevalsumzug in Esslingen wieder neu beleben lassen? Gutwein ist skeptisch: „Dafür braucht man die richtigen Leute, die so was mit ganzer Kraft organisieren. Es fehlt am Geld. Außerdem sind die Vorschriften heute strenger. Vor allem aber müssten wir wieder bei Null anfangen. Das ist kaum zu schaffen.“
Geheimnisvolle vierte Sitzung
Erfolgsrezept
Dass die Zwieblinger oft über sich hinausgewachsen sind, führt Michael Gutwein auf das starke Miteinander zurück: „Bei uns hat jeder an seinem Platz sein Bestes gegeben – vor und hinter der Bühne.“
Vergnügen
Rathaussturm, Prunksitzungen und Umzüge haben den Zwieblingern alles abverlangt. Wenn das offizielle Programm vorbei war, wurde im kleinen Kreis weitergefeiert – die sogenannte „vierte Sitzung“ ist bei denen, die dabei sein durften, bis heute Kult. Da prosteten sich Elferrat und Damenkomitee mit „Bauern-Schorle“ aus Rotwein und Sekt zu, Büttenredner schlüpften spontan in andere Rollen, ein Karnevalist mimte gar ein Tanzmariechen – Spagat inklusive. „Da war alles außer Rand und Band. Es war einfach schön“, erinnert sich Gutwein.