Aller Anfang ist mühsam und zeitintensiv. Doch die Mühe lohnt – für alle. Wie Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen und für sich selbst und andere einzustehen.
Am Morgen bleibt der Turnbeutel einsam neben dem Frühstückstisch liegen. Am Nachmittag ist in der Unordnung des Kinderzimmers der Büchereiausweis nicht mehr zu finden. Und am Abend sind die Hausaufgaben noch immer nicht fertig. Viele Kinder denken nicht mit, wenn es um ihre eigenen Angelegenheiten geht. Oder sie verdrücken sich regelmäßig, wenn es darum geht, ihre Pflichten im Haushalt zu erledigen.
„Denk bitte daran . . .“, „Vergiss nicht . . .“. So ermahnen Eltern ihre Kinder immer wieder. Doch ständig für das Kind mitzudenken und Lösungen für dessen Probleme zu finden, ist anstrengend. Wie angenehm ist dagegen die Vorstellung, dass Kinder Schritt für Schritt selbst Verantwortung übernehmen – im Alltag, für sich selbst, für andere. Das wäre nicht nur ein Gewinn für Eltern. Denn Verantwortung macht Kinder selbstständig und unabhängig – einfach stark!
Lernen am Modell
Am ehesten lernen das Kinder, wenn sie nicht ausgebremst werden. „Kinder einfach machen lassen!“, so bringt es der Pädagoge und Autor Udo Baer auf den Punkt. Wer Kindern erlaubt, eigene Erfahrungen zu machen, fördert ihre Motivation zu handeln. „Alle Kinder wollen groß sein, um das zu können, was Erwachsene ihnen vorleben“, so Baer. Bereits in den 60er Jahren fand der kanadische Psychologe Albert Bandura heraus: Die Kleinen beobachten die Großen und lernen durch Nachahmung. Lernen am Modell.
Am leichtesten haben es Eltern, die ihr Kind von klein auf im Alltag altersgemäß miteinbeziehen. Und gemeinsam den Stolz genießen, wenn es Aufgaben gemeistert hat. Dafür sind Zeit und Geduld notwendig. Denn je weniger Kinder können, umso länger dauert es. Dem Kind die Aufgabe abzunehmen und sie schnell selbst zu erledigen, ist kontraproduktiv. „Geduld zahlt sich dagegen langfristig aus“, ist Udo Baer überzeugt. Denn je mehr ein Kind ausprobiert, umso mehr lernt es langfristig auch.
Fünfe gerade sein lassen
Fünfe gerade sein lassen
Perfektionismus setzt die Messlatte zu hoch und bremst aus. Erwartungen an das Kind sollten daher nicht zu hoch liegen. Denn bleiben die Erfolgserlebnisse zu häufig aus, sinkt auch die Motivation des Kindes, sich an Aufgaben heranzutrauen.
Vertrauen
Vertrauen
Das Kind will allein den Schulweg gehen? Bei Freunden in einer anderen Stadt übernachten? Puh, wenn das mal gut geht! Bei neuen Herausforderungen, die ein Kind annehmen will, stellt sich manchmal ein ängstliches Bauchgrummeln ein. Die Verlockung, das Kind vor Fehlern und deren Konsequenzen zu schützen, ist groß. Udo Baer: „Ein großes Geschenk, das Eltern ihren Kindern geben können, ist Vertrauen.“
Denn Vertrauen macht Mut! „Wer lernen soll, die richtigen Entscheidungen zu treffen, dem müssen die Eltern auch die Möglichkeit geben, sich falsch zu entscheiden“, so drückte es der bekannte, 2019 verstorbene, dänische Familientherapeut Jesper Juul aus. Das bedeutet natürlich nicht, sich über die eigenen Ängste hinwegzusetzen. Kleinere Risiken – wie eine schlechte Note – sind o. k., doch vor Gefahren – wie Mobbing, Krankheiten und Unfälle – sind Kinder zu bewahren.
„Brauchst Du Hilfe?“
„Brauchst du Hilfe?“
Das Kind will zum ersten Mal allein mit dem Bus oder der Bahn zu einem Freund fahren? Eltern können Herausforderungen, die ihnen noch ein wenig riskant erscheinen, absichern. So besteht die Möglichkeit, im Vorfeld zur Bushaltestelle zu gehen, mit dem Kind auf den richtigen Bus zu warten und zu erklären, wie er sich erkennen lässt. Sie können auch gemeinsam mit dem Kind die Bushaltestellen bis zum Ziel aufschreiben und zählen und dafür sorgen, dass das Kind vor Ort abgeholt wird.
Familiensache!
Familiensache!
Verantwortung zu übernehmen, lässt sich auch mit älteren Kindern üben, die sich bislang noch davor drücken. Oft geht es dabei um die Hausaufgaben. Udo Baer schlägt vor, daraus eine Familiensache zu machen. Im Familienrat kann die Mutter oder der Vater erklären, welche Sorgen sie haben, wenn Hausaufgaben nicht erledigt werden. „Wie lässt sich das neu und besser regeln?“, so lautet die Frage dann an den Familienrat. „Was würdest du vorschlagen?“ – diese Frage richtet sich an das Kind.
Udo Baer: „Oft hat es selbst Lösungsideen, weil es weiß, was es braucht. Vielleicht fällt es ihm leichter, nach 18 Uhr Hausaufgaben zu machen statt direkt nach der Schule.“ Die Lösung sollte für alle zufriedenstellend sein. Hält sich das Kind nicht an die neue Regel, kann das ein neuer Gesprächspunkt für den nächsten Familienrat werden. Vielleicht kann es erklären, warum es von der Regel abgewichen ist? Möglicherweise gab es gute Gründe? Ist sie vielleicht nicht alltagstauglich? Dann sollte sie neu ausgehandelt werden.
„Nee, das war ich nicht!“
„Nee, das war ich nicht!“
„Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ „Nee – das war ich nicht!“ Eltern kennen diese Worte zur Genüge. „Kinder haben einen guten Grund, auf diese Weise ihre Fehler zu begründen“, weiß Udo Baer. „Reiner Selbstschutz!“ Offenbar hat das Kind gelernt, dass ein Fehler etwas ist, was nicht sein darf. Vielleicht hat es sogar die Erfahrung gemacht, deshalb ausgeschimpft oder bestraft zu werden.
„Wenn aber Erwachsene Missgeschicke bei sich selbst und auch beim Kind zulassen, gibt es auch für das Kind keinen Grund, sie nicht zuzugeben“, erklärt Baer. „Tut mir leid, da habe ich etwas falsch gemacht!“ Kommt dieser Satz Erwachsenen leicht über die Lippen, hat ein Kind damit auch keine Probleme.
Wenn ein Kind von einem Fehler erzählt, bedarf es mehr als ein kurzes „Macht nichts!“. Sich Zeit nehmen und aufmerksam zuhören – das ist es, was ein Kind entlastet. „Ach, deshalb hat es nicht geklappt“, „Puh, da hast du dich ziemlich geärgert“, „Willst es noch einmal versuchen?“. So können Eltern ihrem Kind zeigen, dass sie verstehen, was es erzählt, und ihm Mut machen.