Rouven Rech drehte den absurden Dokumentarfilm zur Agentur „Adopted“. Foto: privat

Am Anfang war es Kunst: Was, wenn arme Afrikaner reiche Europäer adoptieren würden? Aus der Frage wurden eine reale Adoptionsagentur – und ein Dokumentarfilm.

S-Mitte - Gudrun F. Widlok liebt die Irritation. Vor allem, wenn sie selbst die Verursacherin dieser Irritation ist. Widlok ist Künstlerin und hatte vor einigen Jahren einen Gedanken, der sich zunächst in ihr Gehirn gepflanzt hat, dann in vielen ihrer Ausstellungen Ausdruck fand und sich schließlich immer weiter in die Realität drängte. Der Gedanke kam ihr in der Vorweihnachtszeit. Wie jedes Jahr landeten Prospekte in ihrem Briefkasten, die Bilder von afrikanischen Kindern zeigten und gleichsam dazu aufforderten, diese Kinder doch zu adoptieren und finanziell zu unterstützen. Der Mangel in afrikanischen Ländern ist sicher unbestritten, doch auch hier, in Deutschland, mangelt es, dachte sich die Künstlerin. Nicht am Materiellen, aber an anderem, an der Art von Wärme und Geborgenheit, wie sie nur in Großfamilien zu finden sei. Was, wenn der Spieß umgedreht würde, finanziell verwöhnte, aber emotional verarmte Europäer von afrikanischen Großfamilien adoptiert würden?

Ein absurder wie irritierender Gedanke, den Widlok fortan auf die Spitze trieb. In Ausstellungen installierte sie Büros, in denen sie als Vermittlerin der fiktiven Agentur Adopted Kontakte zwischen Europäern und adoptionswilligen afrikanischen Familien herstellte. Auch in Accra, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Ghana und in Ouagadougou in Burkina Faso gab es Ausstellungen. Obwohl die Besucher den Kunstcharakter der Installation erkannten, kam immer wieder die irritierte Frage auf: Stimmt es oder stimmt es nicht? Der Schritt zu einer zweiten Reaktion war nicht weit: Wie man sich anmelden könne, fragten viele. Auch in Ghana gab es Resonanz. Familien meldeten sich, gerne würden sie helfen und Europäer aufnehmen.

Aus den Ausstellungen wurde eine Adoptionsagentur

„Oh Africa, let us help!“ ruft einer enthusiastisch in einer der Anfangsszenen des Dokumentarfilms adopted. Der Film zeigt, welchen Stein dieser eine Gedanke ins Rollen gebracht hat. Die Agentur adopted gibt es heute wirklich. In Zusammenarbeit mit Widlok hat sich der Dokumentarfilmer Rouven Rech, Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, des Themas angenommen und drei der Adoptiv-Kinder auf der Reise zu ihren neuen Familien in Ghana begleitet. Bei der Filmschau Baden-Württemberg haben die beiden den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen, jetzt hat Rech seinen Film im EM-Kino gezeigt.

Eines der begleiteten Adoptiv-Kinder ist über siebzig Jahre alt. Sie habe schon immer in den Entwicklungsdienst gewollt, sagt Gisela aus dem Off, auf den Bildern streift sie gerade durch ihren Garten. Dann aber habe sie ihren Mann kennengelernt und von da an „Entwicklungsdienst an einem einzigen Menschen geleistet“. Jetzt ist ihr Mann gestorben, die Schwäbin einsam in dem großen Haus in einem Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Sie überlegt, wieder zurück in ihre Heimat Schwaben zu ziehen, entscheidet sich dann aber doch für Afrika. Eine Familie in Ghana nimmt die pensionierte Lehrerin auf. Ein anderer ist Ludger, um die vierzig und Schauspieler in Berlin. Vor der Abreise erzählt er seinen Eltern von der Option, für immer in Ghana zu bleiben. Die dritte ist Thelma, eine lebenslustige Isländerin, die ebenfalls in Berlin wohnt. Sie ist Anfang zwanzig und freut sich auf ein Abenteuer.

Der Zusammenprall der Kulturen wirkt immer wieder absurd

Der Dokumentarfilm ist einerseits hochgradig absurd, etwa an solchen Stellen, an denen es zum unvermeidlichen Zusammenprall der Kulturen kommt. Wenn Gisela verzweifelt an der in Ghana üblichen Wasser-Tüte nagt, irgendwann angewidert ein Stück Plastik aus dem Mund spuckt und dann ein Glas verlangt. Oder wenn sie mit einem entrüsteten „So geht’s net!“ versucht, den Sohn der Familie zu erziehen. Wenn Thelma im Wohnzimmer ihre Schlafstätte aufzubauen versucht, umgeben von ihren neuen Familienmitgliedern, und sie dann ein Netz um die Matratze spannt, das sie von Moskitos, nicht aber von dem Geschnatter abschottet. Nicht mehr einsam zu sein, heißt auch, nicht mehr allein zu sein.

Die absurden Situationen führen dazu, dass der Zuschauer auch während des Films denkt: Stimmt es oder stimmt es nicht? „Sicher ist es keine Reportage, sondern ein Dokumentarfilm, bei dem es auch ein Drehbuch gibt“, sagt Rech im Anschluss an den Film. Dennoch habe er die Personen mit seinem Team einfach begleitet.

Der Film lässt durch den Zusammenstoß von Mentalitäten Reflexionen über die eigene Kultur zu. In einer Szene erzählt der Sohn aus Ludgers Gastfamilie, dass er unbedingt Pilot werden wolle. Dann könne er die ganze Welt bereisen, vor allem die USA hätten es ihm angetan. „Weil es dort Laptops gibt und Fahrräder“, sagt der Junge. Ludger entgegnet, er habe in Deutschland einen Laptop. Und zwei Fahrräder – „Warum denkst du, bin ich trotzdem hier?“ Die Frage bleibt unbeantwortet. Ludger hält es am längsten in Afrika aus. Zurück in Deutschland pflege er noch immer den Kontakt zu seiner Ersatz-Familie, sagt der Regisseur. Gisela und Thelma tun das nicht. Für sie bleibt die Utopie eines besseren Lebens am Sehnsuchtsort Afrika, was sie ist: eine Utopie.