Tina Saum (rechts) bei ihrem Spaziergang mit einer Schildkröte auf dem Stuttgarter Schlossplatz im Gespräch mit einer Passantin Foto: Max Kovalenko

Walter Benjamin notierte einst, dass es eine Zeit gab, in der man beim Promenieren eine Schildkröte mit sich führte. Tina Saum von der Flanerie folgt Esmeralda, der Schildkröte, an Orte in der Innenstadt.

Walter Benjamin notierte einst, dass es eine Zeit gab, in der man beim Promenieren eine Schildkröte mit sich führte. Tina Saum von der Flanerie folgt Esmeralda, der Schildkröte, an Orte in der Innenstadt.

Stuttgart - Dichtung oder Wahrheit? Belegt ist diese Behauptung aus der Flaneursliteratur nicht. Doch allein die Vorstellung, dass es so gewesen sein könnte, ist eine wunderbare. „Es ist ein lang gehegter Wunsch von mir, genau das zu tun: Mit einer Schildkröte spazieren zu gehen“, sagt denn auch Tina Saum von der Flanerie – Labor für Gedanken und Gänge. „Schließlich beschäftige ich mich seit Jahren mit dem Flanieren.“

Ein Traum, der nun in Erfüllung ging: In der vergangenen Woche führte Saum drei Landschildkröten aus – oder vielmehr war es andersrum. Denn die drei Damen gaben das Tempo vor. Da war zum einen Esmeralda, die Hübsche, Erhabene, die immer mit erhobenem Kopf durch die Gegend spaziert. Und da war Kugelraupe, die alte Lady, die viel ans Fressen denkt. Und nicht zuletzt Urmelchen, die kleinste der drei Schildkröten.

Die drei Damen kommen allesamt von der Auffangstation für Landschildkröten von Christin Kern, die zum Tierheim Botnang gehört. Diese beherbergt dort momentan rund 50 Landschildkröten – von denen drei nun flanieren durften.

Natürlich war die Erfüllung des Traums nicht purer Selbstzweck. Vielmehr ist die Idee des Spaziergang zur Aktion „Ohne Hast und Hektik“ ausgeweitet worden. Und diese findet in Verbindung mit dem Vagabundenkongress am Theater Rampe statt. Dieser geht noch bis zum 28. Juni, dort treffen sich internationale Kunstaktivisten, Theoretiker und lokale Institutionen und Bewegungen, um über Alternativen zum etablierten Leben nachzudenken. „Vagabunden, das meint nicht nur Obdachlose, sondern alle, die ein unstetes Leben führen“, sagt Tina Saum. „Und darin besteht auch die Verbindung zum Flaneur, denn der ist schließlich beständig unterwegs.“

Tina Saum beschäftigt sich mit ihrer Aktion mit der Frage, wie eine entschleunigte Welt aussehen könnte. Gibt es wirkliche Alternativen, die mehr sind als Erholungsoasen? „Fragt man jemanden, was er unter Entschleunigung versteht, sagen die meisten: Sauna, Urlaub, Entspannung“, sagt Saum. Aber das sind freilich nur Antipole zum Jetzt-Zustand. „Ich könnte auch keine Lösung benennen – außer, öfter mit einer Schildkröte spazieren zu gehen“, sagt Saum. „Schildkröten statt Autos.“

Denn der Spaziergang mit den drei Schildkrötendamen hat Tina Saum zu einem anderen Wahrnehmungsmodus verholfen. „Wenn man sich auf die Schildkröte und ihre Geschwindigkeit einlässt, lernt man loszulassen, zu gucken, zu riechen – man ist im Hier und Jetzt. Vieles wird unwichtig.“

Tina Saum folgte immer einer der Schildkröten. Dorthin, wohin diese wollte, in dem Tempo, das diese wollte. Startpunkt war der Schlossplatz in Stuttgart und die U-Bahn-Station Charlottenplatz. Viele Passanten hätten gefragt: „Wohin geht’s“, sagt Saum. Sie antwortete: „Keine Ahnung.“ „Weiß es die Schildkröte?“ „Ich glaube nicht“, sagte Saum dann. Aber schließlich sei dies ziellose Umherschweifen genau die Idee des Flanierens.

Ob sie denn nicht auch Entschleunigung bräuchten in ihrem Leben, fragte Tina Saum die Passanten, mit denen sie ins Gespräch kam. „Doch schon“, antworteten ein paar Jungs. „Das wäre eine prima Idee.“ Doch wenn sie ganz ehrlich wären, hätten sie diesen guten Vorsatz wahrscheinlich auch schon wieder vergessen, wenn sie um die nächste Ecke wären. Eine Studentin hingegen sagte, sie würde der ständige Druck an der Uni so belasten, dass sie sich nun gegen die Zwänge stellen wolle. Die beiden Frauen waren so ins Gespräch vertieft, dass sie die Schildkröte aus den Augen verloren und sie einholen mussten. „Das waren die zwei interessantesten Positionen“, so Saum.

Ideen für eine entschleunigte Welt will Saum auch weiterhin sammeln. Sie hat Plakate drucken lassen, die ihren Spaziergang mit einer Schildkröte dokumentieren. Darauf ist zudem ein angefangener Halbsatz zu lesen. „Ich werde noch in dieser Woche die ganze Stadt damit plakatieren“, sagt Saum. Und dann abwarten, welche kreativen Ideen die Menschen auf ihren Plakaten hinterlassen. Wie ergänzen sie den Halbsatz? Welche Zeichnungen bringen sie an? Welche Vorschläge werden wieder durchgestrichen, welche überschrieben? Zusätzlich wird es auf der Webseite der Flanerie ein interaktives Tagebuch geben, in das Tina Saum alles einstellt, was mit dem Thema zu tun hat. „Die Leute können und sollen aber auch Sachen einschicken“, sagt sie.

Wer auch davon träumt, einmal mit einer Schildkröte zu flanieren, kann sich diesen Wunsch übrigens erfüllen: Im Zuge des Vagabundenkongresses findet das Werkstattgespräch von Tina Saum nicht im Theater Rampe statt, sondern bei einem Spaziergang – freilich mit Schildkröte. Termin ist der 23. Juni um 20 Uhr auf dem Marienplatz.

www.dieflanerie.wordpress.com