Was Maike Riegler getan hat, war früher unvorstellbar: zu Hause ausziehen und ein eigenes Leben führen. Maike Riegler ist schwerbehindert, ihre Wohngemeinschaft wurde speziell für Menschen wie sie gegründet. Trotzdem konnte sie dort nicht bleiben.
Der Tag, an dem mal wieder alles anders wurde, war der 22. Februar dieses Jahres. Petra Riegler hat schon nichts Gutes geahnt, als die Einladung zum Gespräch kam. Trotzdem hat ihr das, was sie dann zu hören bekam, den Boden unter den Füßen weggezogen. Das heißt etwas. Petra Riegler hat schon einiges erlebt. An jenem 22. Februar also das, was es heißt, gekündigt zu werden. Ihre Tochter Maike muss aus ihrer Wohngemeinschaft ausziehen.
Das Schlimme daran ist, dass es Jahre gedauert hat, bis Maike diese Wohnung hatte. Sie ist schwerbehindert. Und Petra Riegler wusste sofort, dass es wieder eine Tortur wird, ein neues Domizil zu finden. „Ich kann nicht mehr“, sagt Petra Riegler, die nicht dazu sagen muss, dass sie eine Wut hat. Das sieht man. „Und sie wird immer größer!“
Die Geschichte von Maike und ihren Eltern ist nicht nur eine Geschichte von Eltern, die das Beste für ihr Kind wollen und dabei vor immer neuen Problemen landen. Es ist auch eine Geschichte über diese Probleme, die viele kennen, aber kaum einer sieht.
Bis zum Tag ihrer Geburt ist Maike ein gesundes Mädchen. Durch einen Mangel an Sauerstoff wird sie zu einem schwerbehinderten Mädchen. Spastische Zerebralparese lautet der medizinische Fachbegriff. Pflegestufe fünf lautet die Übersetzung für den Alltag. Maike kann nicht laufen, nicht sitzen, nicht krabbeln. Sie sieht so schlecht, dass eine Brille nichts helfen würde. Wenn sie spricht, muss man genau hinhören, um sie zu verstehen. Maike kann in ihrem elektrischen Rollstuhl durch die Wohnung fahren, malt einfache Mandalas und singt gerne bei Helene Fischer mit. Alleine vor die Türe kann sie nicht. Das Einzige, was Maike ohne Hilfe kann, ist liegen.
Immer unter Strom
Petra Riegler hievt ihre Tochter morgens aus dem Bett und abends hinein. Sie duscht mit ihr, sie zieht sie an und aus, entleert ihr den Darm, wechselt ihr die Windeln. Petra Riegler ist da, wenn Maike einen Asthmaanfall hat oder einen Infekt. Die Mutter ist da, wenn Maike aus der Schule kommt und später aus der Werkstatt. „Man ist immer unter Strom“, sagt Petra Riegler.
Im Oktober 2016 kehrt bei Familie Riegler eine ungekannte Normalität ein. Maike zieht aus. In ein Haus in Nürtingen, nicht weit weg von den Eltern. Ein Sozialunternehmen hat dort eine Wohngemeinschaft speziell für junge Menschen mit Behinderung eingerichtet. „Das war wie ein Sechser im Lotto“, sagt Petra Riegler, für die immer klar war: Wenn Maike 18 ist, soll sie ausziehen. Damit sie sich abnabeln kann, so selbstständig wie möglich leben, mit eigenen Freunden und dann und wann Besuch von den Eltern. So, wie es bei Maikes älterer Schwester auch war. So, wie es bei den meisten Familien ist. Und so, wie das gedacht ist, wenn von Teilhabe und selbstbestimmtem Leben die Rede ist.
Wenn Petra Riegler von Maikes Leben in der WG erzählt, klingt das, als berichte sie aus einem Paradies. Die neue Wohnung ist groß und hell und barrierefrei. Es gibt eine schöne Wohnküche, einen umlaufenden Balkon, für jeden der sieben Bewohner ein Zimmer – und eine famose Gemeinschaft. Die Gruppe grillt zusammen, sie geht ins Kino oder aufs Frühlingsfest oder formuliert einen Brief an die Stadtverwaltung, in dem sie auf fehlende Niederflurbusse hinweist und auf Mülltonnen, die Rollstuhlfahrern den Weg versperren. Die Tage beginnen gemeinsam in der Küche und enden oft auch dort. Donnerstags zum Beispiel ist Kochtag, an dem Maike Gemüse schnipselt.
„Das war wirklich toll“, sagt Petra Riegler. Sie konnte förmlich dabei zusehen, wie sich ihre Tochter entwickelt. Maike ist viel mitteilsamer und fordernder und lebendiger. Wenn sie durch die WG rollt, tut sie das oft mit einem Liedchen auf den Lippen. „Maike hat so große Fortschritte gemacht.“
Doch so perfekt, wie es klingen mag, ist dieses Paradies nicht. An jedem zweiten Wochenende müssen die Eltern ihre Kinder nach Hause holen. Und wenn sie krank sind sowieso. Das ist von Anfang an klar. Dass es dabei aber nicht bleiben kann, wird mit der Zeit klar. Vertraute Pflegekräfte verlassen das Haus, es dauert lange, bis neue kommen, wenn überhaupt welche kommen. Im vergangenen Jahr muss die Wohngemeinschaft an zwei zusätzlichen Wochenenden geschlossen werden. Und in diesem Jahr schließlich muss die Nachtbereitschaft gestrichen werden. Notfälle werden nun von der Rufbereitschaft abgedeckt. Bis sie vor Ort ist, können 45 Minuten vergehen. Ein zu großes Risiko für Maike und zwei andere Bewohner, deshalb müssen sie ausziehen.
Man muss nicht viel erklären, die Gründe für diese Entwicklung kann man sich denken, selbst wenn man mit Pflege wenig zu tun hat. Es gibt zu wenig Fachkräfte – und zu wenig Geld, um eine so kleine Gruppe wie diese WG wirtschaftlich zu betreiben.
Man kann das Bedauern deutlich spüren, das in den Zeilen des Kündigungsschreibens steckt. „Wir wissen um die berechtigte Enttäuschung, den Vertrauensverlust und die Sorge der Bewohner*innen und ihrer Angehörigen“, schreibt das Sozialunternehmen, für das die WG einst ein Vorzeigeprojekt gewesen ist. Aber: Es hilft halt nichts.
Eigentlich dürfte das Problem gar nicht existieren
Theoretisch dürfte es das Problem von Familie Riegler aus Nürtingen nicht geben. Weil es die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gibt und das Bundesteilhabegesetz. Wie nie zuvor werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten behinderter Menschen nun geschützt oder gefördert. Heute ist es Pflicht, Bordsteine an Bushaltestellen barrierefrei zu bauen. Vorträge und Broschüren in einfacher Sprache sind selbstverständlich. Und es ist fast normal geworden, dass behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen Theater oder Fußball spielen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Für das Wohnen bedeuten die neuen Zeiten sinngemäß , dass Menschen mit Behinderung frei wählen können, wo sie wohnen, wie sie wohnen und mit wem sie wohnen. Auch hier hat sich viel getan. Große Wohnheime am Ortsrand sind nicht mehr der Standard. Längst gibt es Mehrgenerationenhäuser mitten im Ort und mit Betreuung im Bedarfsfall und Budgets für höchst individuelle Assistenzmodelle, inklusive Wohngemeinschaften sind im Angebot oder auch Wohngemeinschaften wie die von Maike Riegler. Nur eben nicht mehr für Maike.
„Die Menschen, die am meisten Hilfe brauchen, brauchen mehr“, sagt Petra Riegler. Sie hat sich die Finger wund getippt und den Mund fusslig geredet, um eine neue Bleibe für ihre Tochter zu finden. Und zu oft stieß sie auf Hürden. Mal war die Unterkunft nicht barrierefrei, mal gab es keine Nachtbereitschaft, mal war das Personal nicht geschult genug für Pflegegrad fünf. Wenn es überhaupt einen Platz gegeben hätte.
Aus diesem Anlass mal eine Frage an Jutta Pagel-Steidl: Ist Inklusion eine Illusion? Jutta Pagel-Steidl ist Geschäftsführerin des hiesigen Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung. Was sie sagt, klingt zwar nicht nach Illusion, dafür aber ein bisschen nach Exklusion. Es gebe, sagt die Expertin, ein grundsätzliches strukturelles Problem: zu wenig Wohnraum, zu wenig Fachkräfte, zu wenig Geld. Darunter hätten alle Menschen mit Behinderung zu leiden – Menschen mit komplexen körperlichen Behinderungen jedoch besonders. Weil sie mehr Hilfe benötigten, also mehr Personal und mehr Geld. Moderne Wohnformen seien auf Menschen mit geistiger Behinderung fokussiert. Gerade für junge Menschen mit hohem Pflegegrad sei es sehr schwer, eine geeignete Wohnform zu finden. Also blieben ganz oft: die Eltern. „Die sind ja da.“
Petra Riegler, die klein und zierlich ist, hat drei Jahre mit ihren Kassen um einen elektrischen Lifter gekämpft, mit dem sie Maike mit ihren 52 Kilo besser aus dem Bett heben kann. Wieder und wieder hat sie einen Antrag gestellt für einen neuen Spezialstuhl, mit dem sie Maike besser duschen kann. Und was hat sie nicht alles aufbieten müssen, damit das Geld für Maikes Spezialwindeln nicht gekürzt wird. Es gibt noch mehr solcher Kämpfe. Petra Riegler weiß, dass alles, was Maike benötigt, sehr viel kostet. Aber wissen auch die anderen, dass sie nichts davon zum Spaß macht? Und dass es sich schrecklich anfühlt, immer kämpfen zu müssen und dabei noch ein schlechtes Gewissen zu haben? „Ist das die Strafe dafür, dass ich ein behindertes Kind habe?“, fragt Petra Riegler.
Wer sich fragt, ob Petra Riegler das sarkastisch meint, sollte besser sich fragen, ob er diesen Gedanken ernst meint.
Eine neue Hoffnung zerplatzt
Für eine kurze Zeit im Frühling denkt Petra Riegler, alles wird doch noch gut. In Ostfildern, in einem hellen, barrierefreien Haus, mit Nachtbetreuung und erfahrenem Personal soll ein Platz frei werden. Maike kann in eine WG mit zwölf Personen ziehen. Petra Riegler strahlt noch immer, wenn sie an das Glück denkt, das sie damals auf ihrer Seite wähnte. Doch im Juni verfliegt es so plötzlich, wie es gekommen war. Der Platz wird doch nicht frei. Stattdessen wohnt Maike nun in einer WG in einem anderen Haus mit deutlich älteren Mitbewohnern, mit einem deutlich kleineren Zimmer ohne Bad und ohne Waschbecken.
Petra Riegler ist jetzt 59, ihr Mann, der viel im Ausland arbeitet, 63. Maike ist 28, und trotz neuem Zimmer wird sie wohl wieder viel zu Hause sein.