Sehr glücklich: Szene aus „In Honour of“ vom Ballett im Revier der Intendantin Bridget Breiner Foto: Ballett

Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Bei einem Publikumsgespräch lernt sie, wie man sich zum Ballettintendanten ausbilden lässt. Und welche Rolle ein Schatzi dabei spielt.

Stuttgart - „Ballettdirektor/in zum nächstmöglichen Zeitpunkt gesucht ...“ Nein, solche Stellenanzeigen gibt es nicht, zumindest nicht in der Zeitung. Wie man an einen Posten als Ballettdirektor/in kommt, das war eine der spannenden Fragen, die am Sonntagmorgen im Parkett des Opernhauses diskutiert wurden. Kurz vor elf Uhr strömen die unermüdlichen Ballettfans trotz schönsten Sommerwetters ins Innere des Opernhauses. Viele von ihnen waren am Abend zuvor in der Vorstellung „Next Generation“, weil die Gesprächsrunde an diesem Morgen gewissermaßen die Ergänzung dazu darstellt. „Suchen Sie schon wieder Ihren Platz!“, sagt ein Besucher zu mir, als ich meinen Platz in Reihe vier nicht finde, und es klingt ein klein wenig vorwurfsvoll.

Die Gäste von Vivien Arnold, Pressechefin des Balletts, die die Gesprächsrunde leitet, haben kein Problem, ihren Stuhl zu finden. Acht Stühle stehen für sie bereit, aber es sind doch nur sieben Gäste angekündigt? Bridget Breiner, Sue Jin Kang, Filip Barankiewicz, Ivan Cavallari, Robert Conn, Eric Gauthier und Christian Spuck waren alle Publikumslieblinge des Stuttgarter Balletts, sie alle haben die Seiten gewechselt und sind heute BallettdirektorInnen, oder treten demnächst ihre Posten an. So auch Überraschungsgast Nummer acht, Tamas Detrich, der in zwei Jahren die Nachfolge von Reid Anderson antreten wird.

Was macht ein Tänzer oder eine Tänzerin, wenn die zeitlich begrenzte, aktive Karriere zu Ende geht? Tanzen ist so zeitintensiv, da kann man nicht nebenher studieren oder eine Ausbildung machen, wie es manche Sportler tun. Im Gespräch wird deutlich, wie ungemein ernst Reid Anderson seine Sorgfaltspflicht als Arbeitgeber nimmt, wie er sich um die berufliche Zukunft seiner Leute Gedanken macht, wie er versucht, im Gespräch herauszufinden, wo sie ihre Stärken sehen, und wohin die Reise möglicherweise gehen kann. Unterrichten, choreographieren, eine Compagnie leiten?

Am Freitag werden die Tränen nur so fließen

Headhunter rufen beim Intendanten an. Wer könnte sich für den Posten eignen? Robert Conn, der heute das Ballett Augsburg leitet, hat seinen ehemaligen Intendanten ein ganzes Jahr lang wie ein Schatten begleitet, um herauszufinden, wie das ist, der Alltag eines Ballettdirektors, der aus sehr viel wenig glamourösem Verwaltungskram, Sitzungen und Dreijahresplänen besteht. Vom Alltag in Zürich berichtet auch Christian Spuck. Wie schwierig der Anfang war, wie man seinen eigenen Stil erst entwickeln und durchsetzen muss, und dass es ein paar Jahre dauert, bis man seinen eigenen Weg gefunden hat.

Auch Eric Gauthier erinnert sich an die schwierigen Anfänge von Gauthier Dance. „Wenn ich jetzt zurückdenke, ich würde es nicht mehr machen!“ Jetzt, nach neun Jahren, plant die Stadt gar ein eigenes Tanzhaus für Gauthier Dance und die freie Tanzszene. Was für ein Erfolg! Tamas Detrich wiederum berichtet davon, wie schwierig und nervenaufreibend das Auswahlverfahren für die Nachfolge von Reid Anderson war. Er musste es genauso wie alle anderen BewerberInnen durchlaufen, bis endlich, endlich die erlösende Zusage kam.

Die Abräumerin an diesem Morgen ist aber eindeutig Sue Jin Kang. Mit ihrem umwerfenden Charme hat sie das Publikum ruckzuck eingewickelt. Am Freitag wird sie ihren Bühnenabschied in Crankos „Onegin“ geben, und da wird auf der Bühne und im Publikum mehr als nur das eine Tränchen fließen, das sie sich verstohlen aus den Augenwinkeln wischt, als sie ihren Redebeitrag mit den Worten „Danke Stuttgart, danke Korea!“ beendet. Seit dreißig Jahren tanzt sie fürs Stuttgarter Ballett, einfach unfassbar. „Schatzi, ich will das machen!“ Immer wieder hat das Koreanische Nationalballett versucht, Sue Jin als Direktorin zu gewinnen. Immer wieder hat sie abgelehnt, bis sie dann eines Tages einen ganzen Tag im Stuttgarter Schlossgarten saß und mit Reid Anderson alles von vorn bis hinten durchsprach - und endlich zusagte.

Die Maultaschen-Offensive in Korea

Nicht einfach sei das für ihren Schatzi, ihren Mann, mit der so völlig fremden Mentalität zurechtzukommen. Ungeheuer komisch berichtet sie davon, welche Schwierigkeiten sie selbst mit dieser Mentalität hat, nach so vielen Jahren in Europa. Sie, ganz schwäbische Schafferin, will immer arbeiten, die TänzerInnen ihrer Compagnie haben aber eine geregelte Fünftagewoche, wo gibt’s denn so was? Und sie muss dem koreanischen Publikum erst schmackhaft machen, dass Ballett nicht nur aus „Schwanensee“ besteht. „Nicht nur Kimchi, auch Maultaschen!“, sagt sie, und das Publikum wirft sich weg. Was wird sie uns fehlen! Sie und all die anderen. Diese geballte Kreativität, Energie und Lust, ihren Job zu machen, die diese acht auf der Bühne ausstrahlen.

Hinter der Bühne treffe ich Filip Barankiewicz. Ich frage ihn, ob ihm eine bestimmte Rolle, eine bestimmte Vorstellung aus seiner Zeit als Erster Solist beim Stuttgarter Ballett besonders in Erinnerung geblieben ist. Ich selber fand ihn vor allem als Petrucchio umwerfend, und das Stuttgarter Publikum lag ihm zu Füßen. Und was sagt er? „Viel mehr noch als das Tanzen liebe ich das Unterrichten! Die ganzen tollen Rollen, die ich selber getanzt habe, an andere weiterzugeben, das macht mich vollkommen glücklich!“ Und dabei strahlt er. Prag, du kannst dich freuen auf diesen überzeugten Ballettpädagogen! Dort wird Filip in der Spielzeit 2017/18 seinen Posten als Ballettdirektor des Tschechischen Nationalballetts antreten.

Herr Jamsandekar aus Pune schafft beim Bosch und schwärmst fürs Ballett

Übrigens hatte ihm Reid Anderson einen Job bei der John Cranko Schule angeboten. Und was macht Filip? Er lehnt ab, obwohl er zu diesem Zeitpunkt kein anderes Angebot vorliegen hatte. Weil er ganz genau wusste, was er wollte, nämlich mit professionellen Tänzern zu arbeiten. Erst Monate später kam das Angebot aus Prag. Dieser Mann weiß, was er will! 82 TänzerInnen und 4 Bühnen warten auf ihn. Wie sagte Vivien Arnold so schön? Nach Prag kann man auch mal übers Wochenende. Und schauen, was der Filip dort so auf die Beine stellt. Zürich und Augsburg sind übrigens auch nicht weit, und ein Ausflug in den Ruhrpott lohnt sich sowieso...

Als ich aus der Oper trete, werde ich von einer fröhlichen Gruppe begrüßt, die noch auf der Operntreppe schwätzt. „Sie sind doch die Bloggerin!“ Ja, genau. Wenigstens fehlt diesmal der Zusatz, Sie wissen schon... Die Gruppe besteht aus Hardcore-Ballettfans, die sich über die John Cranko Gesellschaft kennengelernt haben. „Da gehst du nie allein ins Ballett!“ Mittendrin: Kunal Jamsandekar aus Pune in Indien. Allein unter Schwaben, aber nicht mehr allein, seit er mit ihnen ins Ballett geht. Er schafft bei Bosch in Schwieberdingen, wie könnte es anders sein, und hat sich anfangs ziemlich einsam gefühlt in schwäbischen Landen. Bis der junge Mann mit der umwerfenden Ausstrahlung, der selber indischen Tanz praktiziert und Ballett liebt, auf die John Cranko Gesellschaft stieß, und alles ein glückliches Ende nahm, denn dort hat er Freunde gefunden.

Zum Beispiel Renate Frommer, die sich 1969 einen Job in Stuttgart suchte. Aus welchem Grund? Wegen des Stuttgarter Balletts. Sie nahm Ballettunterricht und ihre Lehrerin schwärmte ihr immer von Haydée vor. Kunal wird übrigens ständig gefragt, ob er der Bruder von Constantin Allen ist, weil er ihm so ähnlich sieht. Constantin hat am Donnerstag sein Rollendebüt als Petrucchio in der „Widerspenstigen“, und ich werde nach Kunal Ausschau halten. Es ist einfach unglaublich, was für Geschichten dieses Stuttgarter Ballett beim Publikum schreibt!

Hier geht es zu Elisabeth Kabateks Blog bei Stuttgarter Ballett