Matilda, Andrea, Alexander und Carl Keller machen das Beste aus ihrer Situation. Foto: privat

Andrea Keller lebt seit 2015 mit ihrer Familie in Shanghai und flog kürzlich dorthin zurück. Sie berichtet von ihrem eingeschränkten Alltag in der größten chinesischen Stadt.

Marbach/Shanghai - Bedroht vom Coronavirus fühlt sich Andrea Keller nicht. Die Marbacherin lebt seit Sommer 2015 mit Mann und zwei Kindern in Shanghai. Die Einschränkungen im Alltag nimmt die Familie recht gelassen hin. Während des einwöchigen Urlaubs zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar besuchten alle vier die Familie in Deutschland – und entschieden sich ganz bewusst, wieder zurück nach China zu gehen. Seit der Ankunft in Shanghai spielt sich der Alltag ausschließlich in der Wohnung ab – und die liegt in einem so genannten Compound, einem eingezäunten und durch Sicherheitskräfte kontrollierten Wohnblock.

Den Weihnachtsurlaub verbrachten die Kellers in Thailand, der Besuch in Deutschland war deshalb schon länger für die einwöchigen Neujahrsferien geplant. Zum einen, um die Familie zu sehen, zum anderen, um die Zentralen der Arbeitgeber zu besuchen – Andrea Keller ist bei Trumpf beschäftigt und in China zuständig für die Bereiche Finanzen, IT und Qualitätssicherung, Ehemann Alexander ist für Bosch Gruppenleiter eines Softwareprojektes. Und zum Dritten, um auf dem heimischen Wohnungsmarkt die Fühler auszustrecken, denn im Sommer zieht die Familie wieder zurück nach Deutschland. „Als wir losflogen, ging es mit dem Coronavirus langsam los“, erzählt die 37-Jährige. Soll heißen: In Shanghai gab es Kontrollen durch Wärmebildkameras und während der zwölf Stunden Flug hatten alle Mundschutz auf. „In Frankfurt konnten wir dann aber einfach durch die Kontrollen gehen.“

In Marbach hatten sich die vier für fünf Tage in einem Hotel eingemietet, doch am Abend vor dem Einchecken erreichte Andrea Keller eine E-Mail, in der aus Sorge vor dem Virus die Reservierung storniert wurde. „Ehrlich gesagt waren wir anfangs schon etwas überrascht und geschockt, denn als wir in Deutschland ankamen, gab es keinerlei Kontrollen, und wir wussten ja auch, dass wir selbst keinen Kontakt zu jemandem aus Wuhan gehabt hatten, aber wir haben es akzeptiert und in gewisser Weise hatten wir auch Verständnis, denn natürlich hätten wir Coronaträger sein können.“ Unterschlupf fanden die vier dann bei Stefanie Aldinger in ihrem neu eröffneten Gästehaus in der Altstadt. Die zweite Enttäuschung traf Carl, der im Heimaturlaub immer gern in seiner alten Mannschaft mittrainiert hatte. Doch die Eltern der potenziellen Mitspieler waren zu besorgt. Das Ergebnis: Carl durfte nicht ins Training.

Die Situation in der chinesischen Heimat verfolgten Andrea und Alexander Keller täglich und als die Nachricht kam, dass die Ferien anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes um eine Woche verlängert werden, entschieden sie sich, länger als geplant in Deutschland zu bleiben und von hier aus zu arbeiten. „Ich bin jeden Morgen um 4 Uhr aufgestanden, um mit den Kollegen kommunizieren zu können“, erzählt die 37-Jährige. Für den zehnjährigen Carl und seine dreizehnjährige Schwester Matilda begann ebenfalls der Ernst des Lebens. „Homeschooling bedeutet, dass die Lehrer Anfang der Woche online für alle Fächer die Schulmaterialien und Hausaufgaben durchgeben.“

Eine Form des Unterrichts, die die beiden noch immer praktizieren. Seit 8. Februar ist die Familie wieder zurück in Shanghai. „Natürlich haben wir überlegt, ob wir nicht lieber in Deutschland bleiben sollen, aber wir hatten nur Klamotten für eine Woche dabei, unser Hund wurde von einer Freundin in unserer Wohnung gesittet, wir tragen Verantwortung in unseren Firmen und wollten die Kollegen nicht im Stich lassen, und außerdem spielt sich unser ganzen Leben hier in China ab“, erklärt Andrea Keller die Entscheidung und macht keinen Hehl daraus, dass die eigenen Eltern es lieber gesehen hätten, wenn zumindest die Enkel in Deutschland geblieben wären. „Aber die wollten mit uns zurück und wir sind davon überzeugt, dass wir das als Familie gemeinsam am besten hinkriegen.“

Inzwischen ist – soweit das unter den aktuellen Umständen möglich ist – der Alltag eingekehrt. Und der bedeutet für die Kids noch immer Homeschooling und für die Eltern Homeoffice. An die frische Luft können Zwei- und Vierbeiner – allerdings nur im abgeriegelten Wohnblock und immer mit Mundschutz. Zum Missfallen von Carl und Matilda. „Ich hab keine Lust die ganze Zeit hier nur mit meinen Eltern zuhause sein zu müssen. Das nervt. Ich würde gern meine Freunde treffen“, sagt die 13-Jährige im Videochat und Bruder Carl nickt zustimmend. Das Essen lässt sich die Familie wie alle anderen von einem Supermarkt liefern. Die Boten stellen es in Tüten beim Pförtner am Eingang zum Wohnblock ab. „Frisches Obst und Gemüse ist an manchen Tagen schwer zu bekommen, aber an sich müssen wir auf nichts verzichten“, berichtet die 37-Jährige. „Nur auf Besuch – denn der ist schwer reinzubekommen.“

Einen Schock erlebte die Familie bei der Rückkehr in Shanghai, als der Sicherheitsmann am Eingang zum Wohnblock bei allen Fieber maß und Carl 37,7 Grad hatte. Wenn das Thermometer mehr als 37,3 Grad anzeigt muss man normalerweise zum Test in ein so genanntes Fieber-Hospital. „Und da besteht dann natürlich ein erhöhtes Risiko sich anzustecken“, so Andrea Keller. Doch nach ein paar Minuten Diskussion gab es eine zweite Fiebermessung bei dem jüngsten Spross und die war dann okay. „Carl saß hinten im Auto in der Mitte in einer dicken Jacke und mit Mütze, da hatte sich der Körper aufgeheizt.“ Alle drei Stunden muss die Familie Fieber messen und die Ergebnisse dokumentieren. Auch ständiges Händewaschen gehört zur täglichen Routine.

Seit vergangenem Samstag sind alle Restaurants des Distriktes geschlossen. So soll vermieden werden, dass sich größere Menschenansammlungen bilden. Ein Ende der Vorsichtsmaßnahmen ist derzeit nicht abzusehen. Eigentlich sollte Andrea Keller am Montag wieder zur Arbeit in die Trumpf-Niederlassung, doch am Sonntagabend kam die Info, dass weiter von daheim aus gearbeitet wird, weil in der Provinz, in der die Firma ihren Sitz hat, einige Coronafälle aufgetreten sind. Und nicht nur das. Ende vergangener Woche wurde der erste Fall nur zwei Kilometer von der Wohnung entfernt gemeldet – in einem Viertel, in dem eine Freundin der Familie wohnt. „Wir leben hier in unserer Blase hinter der Mauer und nehmen jeden Tag für sich“, beschreibt Andrea Keller den Alltag ihrer Familie. „Das Leben lässt sich aber aushalten. Sollte sich die Situation dramatisch verändern, dann werden wir reagieren und überlegen, ob wir nicht schon früher unsere Zelte hier abbrechen und zurück nach Deutschland gehen. Im Moment haben wir aber keine Angst vor dem Virus.“

Lesen Sie mehr: Der ehemalige Schulleiter des Friedrich-Schiller-Gymnasiums, Christof Martin, berichtet von seinen Erfahrungen mit dem Coronavirus aus Singapur: https://www.marbacher-zeitung.de/inhalt.christof-martin-berichtet-aus-singapur-fiebermessen-und-haendewaschen-ist-laengst-alltag.fcb0229f-b6ca-4563-8abc-6f46d68c52cc.html?nbsp;