Heike Mohrmanns Sohn Tim war heroinsüchtig. Foto: Gottfried / Stoppel

Wenige Tage vor seinem 23. Geburtstag wurde Tim im Sommer 2015 von einem Freund tot gefunden. Heike Mohrmann wäre beinahe innerlich zerbrochen. Heute ist sie ihrem Sohn bei aller Tragik auch dankbar.

Tim ist immer bei ihr. Wenn sie schläft, wenn sie isst, wenn sie lacht, wenn sie weint. Heike Mohrmann fasst an den Anhänger ihrer Halskette. Dort blitzt ein Diamant. 0,42 Karat, gefertigt aus Tims Asche. So trägt sie ihn bei sich, ganz nah an ihrem Herzen, ihren einzigen Sohn, der viel zu jung gestorben ist.

 

Seine Lebensdaten hat sich Heike Mohrmann auf den linken Arm tätowieren lassen: Am 6. September 1992 wurde Tim geboren, am 25. August 2015 starb er. Wenige Tage vor seinem 23. Geburtstag fand ihn sein bester Freund in seinem Zimmer in einer Notunterkunft in seinem Heimatort Schwaikheim. Da war er schon viele Stunden tot. Die Nadel steckte noch in seinem Arm. Tims Gesicht soll ganz entspannt gewesen sein. Seine Mutter tröstet das: dass es ihm gut ging, als er starb, dass er nicht gelitten hat. Er habe einfach aufgehört zu atmen. So hat man es ihr in der Stuttgarter Drogenberatungsstelle Release erklärt. Es war nicht das Heroin, dem er verfallen war, das ihn tötete, sondern eine fatale Mischung aus Methadon und Opiaten.

„Er hat Sachen gesehen, die man als Kind nicht sehen sollte“

Wer war Tim? Für den Freund war er der Mensch, mit dem der am besten reden konnte. Heike Mohrmann hat es gefreut, als der ihr das erzählt hat. Es bedeutet ihr etwas, dass Tim Freunde hatte. Als Kind war er eher ein Einzelgänger und Eigenbrötler. Sie glaubt, das hängt damit zusammen, dass er keine leichte Kindheit hatte. Ihr Ex-Mann habe sie geschlagen, auch vor Tims Augen. „Er hat Sachen gesehen, die man als Kind nicht sehen sollte“, sagt die 57-Jährige. Ihr Sohn war früh selbstständig, verbrachte unter der Woche viel Zeit bei den Großeltern, an denen er hing. Als sein Opa starb, traf das den damals Zehnjährigen sehr.

Mutter und Sohn hatten eine enge Bindung. An den Wochenenden, wenn ihr Mann zu Hause war, habe sie versucht, so viel wie möglich mit Tim weg zu sein. Sie haben eine Burg nach der nächsten besichtigt, waren im Sommer im Freibad, auch im Erlebnispark, um die Gewalt zu Hause zu vergessen. Sie sei damals „über jeden Tag froh“ gewesen, „den ich überlebt habe“. Dennoch schaffte sie es lange nicht, sich zu trennen. Das änderte sich, als sie sich in Rajco verliebte, ihren heutigen Mann. Tim war elf, als er zum ersten Mal ein harmonisches Familienleben erfuhr. Er hat Rajco bis zuletzt „Papa“ genannt.

Botschaften des Sohnes hat sie sich auf den Arm tätowiert

„Had Dich lieb“, „Danke Mama“, „Tut mir echt leid Mama“. Die Botschaften in Tims Handschrift finden sich ebenfalls auf ihrem Arm. Das „Had“ hat sie extra nicht verbessern lassen. Schule sei „nicht seins“ gewesen. Aber er schaffte den Hauptschulabschluss und seine Ausbildung zum Lackierer. Nur mit der Arbeit, das schaffte er irgendwann nicht mehr. Heike Mohrmann weiß nicht, wann genau und mit wem Tim seine ersten Erfahrungen machte. Sie will es auch nicht wissen. Sie glaubt nicht, dass es seine Jugendfreunde waren, die bis heute Kontakt halten. Auch nicht die Freundin, seine erste und einzige große Liebe. Die Beziehung zerbrach nach drei Jahren an Tims Sucht. Sie vermutet, dass er vor allem alleine konsumierte. „So musste er auch nichts teilen.“

Tims Lebensdaten finden sich unter einem aussetzenden Herzschlag. Foto: v

Wenn Tim zu Hause war, war er meist in seinem Reich im oberen Stock. Doch oft war er unterwegs. Sie war damals sogar „froh, dass er endlich rausgeht“. Dazu musste sie ihn, als er jünger war, immer überreden. Im Nachhinein erkennt sie die Anzeichen für seinen Konsum. Doch vieles konnte man auch mit der Pubertät erklären: dass er die Schule geschwänzt hat, dass er sich abends aus dem Haus schlich, dass er weniger aß.

Dann beendete er das Versteckspiel

Lange gelang es ihm zu verstecken, was mit ihm los war. Bis er es nicht mehr konnte oder wollte. Sie saßen abends im Wohnzimmer beisammen, ihr Mann, Tim und sie. „Ich muss mit euch reden“, habe ihr Sohn gemeint. Da war klar, es kommt etwas Größeres. Aber wie groß, damit hätte sie nicht gerechnet. „Mama, ich nehme Heroin.“

Hatte er das wirklich gesagt? Heike Mohrmann konnte es damals zunächst kaum glauben. Ihr Sohn – ein Junkie? In Sachen illegale Drogen sei sie „im Tal der Ahnungslosen“ gewesen. Sie kannte „Christiane F.“, mehr nicht. Heroinsüchtige hatte sie sich anders vorgestellt. Da passte Tim mit seinem geföhnten Haar nicht ins Bild. Sein gepflegtes Äußeres war ihm bis zuletzt wichtig.

Hier sieht man Tim seine Sucht schon an. Foto: v

Doch was bedeuteten seine Worte eigentlich? Sollte sie ihn jetzt zu seinem Schutz in seinem Zimmer einschließen? Gleich am nächsten Tag machte sie einen Termin beim Hausarzt aus. Danach folgte recht schnell der Entzug in der Klinik. Es war der einzige, den Tim machen sollte. Weil er so früh starb.

Tim blieb nach der Entlassung nicht lange clean – und sie als Eltern waren fortan „24 Stunden in Habachtstellung“, immer in Sorge um den Sohn. Wenn das Telefon zu ungewöhnlichen Zeiten klingelte, fürchteten sie das Schlimmste. „Man ist froh, wenn das Kind im Entzug ist. Dann ist es sicher“, sagt Heike Mohrmann.

Irgendwann war ihnen alles zu viel – sie mussten sich selbst schützen

Das Heroin hat sich Tim auch per Post liefern lassen, bestellt im Darknet. Einmal hat sie einen der Umschläge geöffnet. Das Tütchen verbarg sich zwischen zwei Spielkarten. „Belügen, Betrügen, Beschimpfen, Beklauen“ – die typischen Verhaltensweisen eines suchtkranken Kindes legte auch Tim an den Tag. Er bestellte Handys auf ihren Namen, um sie zu verkaufen. Was er sonst noch alles trieb, um sich seine Sucht zu finanzieren, weiß sie nicht und will es auch nicht wissen.

Irgendwann war es jedenfalls alles zu viel. Sie konnten nicht mehr. Sie setzten ihn vor die Tür. In der Angehörigenberatung von Release wurden sie bestärkt. Dort fanden sie Rat in ihrer Not. Sie müssten sich als Eltern auch selbst schützen, erfuhren sie von ihrer Beraterin. Tim wiederum wusste sich zu helfen. Er hatte sich noch am gleichen Tag ein Zimmer in der Notunterkunft organisiert.

„Entweder wir zerbrechen dran, oder wir tun etwas“

Als es am 26. August 2015 morgens an der Tür klingelte, war Heike Mohrmann noch im Schlafanzug. Sie sprach zuerst übers gekippte Fenster mit den Polizeibeamten. „Sind sie die Mutter vom Tim?“ Sie muss die zwei reingebeten haben, aber sie weiß es nicht mehr. Ihr Gedächtnis hat eine Lücke. Woran sie sich noch erinnert, ist, dass sie im Schock ihren Mann anrief: „Der Tim ist tot! Der Tim ist tot!“ Sie weinte nicht, spürte nichts in diesen ersten Stunden. „Was ist mit mir los?“, dachte sie. Wo war nur ihr Schmerz? Er sollte noch kommen. Mit Wucht. „Ich wusste gar nicht, dass aus meinen Augen so viele Tränen kommen können“, erzählt sie. Es sei ein „ganz anderes Weinen“ gewesen. Das Gefühl der Sehnsucht habe sie fast zerrissen.

Da war Tim im Urlaub und noch gesund. Foto: v

Heike Mohrmann erinnert sich, wie sie neben Rajco im Bett lag und sagte: „Entweder wir zerbrechen dran, oder wir tun etwas.“ Sie haben sich für Letzteres entschieden. Auf eine Art ist sie ihrem Sohn heute dankbar, auch wenn sie es sich „anders wünschen würde“. Sie hat ihre Berufung gefunden – als Leiterin der Elternselbsthilfe Rems-Murr-Kreis und inzwischen auch als erste Vorsitzende der Landesvereinigung der Elternselbsthilfe Suchtgefährdeter und Suchtkranker. Über die Angehörigenarbeit habe sie „so viele tolle und interessante Menschen kennengelernt“. Es helfe, sich mit anderen auszutauschen. Im Elternkreis müsse man sich nicht schämen, nicht rechtfertigen, nicht schuldig fühlen, auch nichts erklären. „Wir haben es ja alle durchgemacht“, sagt sie. 2019 hat sie eine Trauergruppe gegründet. Auch dort stützen sie sich gegenseitig. Ein Kind war erst 15 Jahre alt, als es starb.

Zuerst war sie jeden Tag auf dem Friedhof, das ist inzwischen anders

Heike Mohrmann hat viele Ehen zerbrechen sehen. Ihren Mann und sie habe der Verlust noch enger zusammengeschweißt. Auch weil sie immer offen miteinander waren und selbst im Schmerz ihren Humor nicht verloren. Dabei gehen sie unterschiedlich mit ihrer Trauer um. Er verschwinde in seiner Werkstatt, wenn es ihn überkommt. Zuerst hat es sie irritiert, als er weg und sie allein war. Dann haben sie geredet und sie verstand. Dass er anders trauert als sie. „Ich lasse ihn seither, er kommt ja wieder.“

Ihr Mann hat auch Tims Urne gefertigt und das Holzkreuz fürs Grab. Einmal im Jahr holt er es, um es zu schleifen und zu ölen. Dann kommt es zurück an seinen Platz. Zuerst zog es Heike Mohrmann jeden Tag auf den Friedhof, um mit Tim zu sprechen – mal in Liebe, mal in Wut. Nun brauche sie den Friedhof nicht mehr. Ihr letzter Besuch war Ostern. „Trauer verändert sich, das ist wirklich wahr.“ Aber sie geht auch nie mehr weg.