„Er muss einen klaren Kopf kriegen und von der zehnspurigen Straße auf eine Spur runterkommen“, sagt Pauls Therapeutin. Foto: Friederike Groß

„Man gräbt sich immer tiefer ins Hasenloch“: Ein 23-jähriger Sportstudent berichtet,wie er im Laufe der Corona-Pandemie in eine Youtube- und Spielsucht abgedriftet ist.

Stuttgart - Paul ist 23 Jahre alt, ein Einzelkind aus gut situierter Akademikerfamilie. Er hat eine feste Freundin, studiert Sport und Management. Ein aufmerksamer junger Mann. Klug, zugänglich, bescheiden, spiel- und internetsüchtig.

 

In der Corona-Zeit ist etwas mit ihm passiert. Er denkt jetzt viel darüber nach, wie er vom Teamplayer auf dem Bolzplatz zum Solisten am Computer werden konnte. Irgendwie ist er abgedriftet. Etwas ist ihm entglitten. Dabei lief lange alles gut.

Das Abitur macht Paul (Name geändert), ohne viel dafür zu tun. Ein Sportler durch und durch. Ein treuer VfB-Fan, der kein Heimspiel verpasst. Wenn er nicht in seinem Remstaler Verein kickt, spielt er Handball oder Basketball mit Freunden.

Dem Gymnasium folgt ein abenteuerliches Soziales Jahr im Reisfeld-Nirgendwo von Vietnam. Er unterrichtet Englisch in einer Schule, wo nicht mal Lehrer richtig Englisch sprechen. Wozu auch, die Kinder werden ja eh Bauern. Paul wohnt in der Schule. Keine Dusche, nur ein Trog zum Waschen. Ein Klo ohne Wasserspülung. Sein Zimmer teilt er mit Kakerlaken.

Paul braucht keinen Luxus. Markenklamotten geben ihm keinen Kick. Sein PC, den er vor zehn Jahren aus Teilen für 400 Euro zusammengebaut hat, tut heute noch seinen Dienst. Als er seine Playstation anschafft, wartet er ein Black-Friday-Angebot ab. „Da bin ich ganz Schwabe.“

Viel Freiheit

Seit er vier ist, spielt er im Fußballverein. Seit er acht ist, spielt er Computer. Als er neun ist, erklärt ihm seine Mutter, sie brauche eine Pause vom Vater. Er erklärt ihr, er brauche eine Pause vom Klavierunterricht, da kann sie kaum was dagegen sagen. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ein kreativer Kopf. Eine Macherin. Dem Vater geht der Ehrgeiz ab. Irgendwo dazwischen findet sich Paul.

Er genießt es, nach der Trennung der Eltern fast immer allein zu Hause zu sein. Kommt er von der Schule, schaltet er RTL II oder den Gameboy ein. Nachmittags trifft er sich mit Kumpels zum Fußball. Zweimal in der Woche hat er Training im Verein. Abends kommt oft der Anruf der Mutter: „Du, es wird später.“ Ist okay. Er hat seine Freiheit, er hat sich.

Der Computer, ein Freizeitfüller

Klar, das mit den Computerspielen nimmt zu: „Fifa“, „League of Legends“, „Counterstrike“. Aber es gibt einige in der Klasse, die zocken noch mehr. Bei Schlecht-Wetter trifft man sich online und spielt zusammen gegen andere Mannschaften. Der Computer ist ein Freizeitfüller. Der einzige, wenn Paul allein ist. Wenn er nicht weiß, was er tun soll, setzt er sich an die Playstation. Und er weiß daheim eigentlich nie, was er tun soll.

In den Winterferien macht er Luxusurlaube mit seiner Mutter: Thailand, USA, Karibik. Im Sommer wandert er mit dem Vater und Cousins auf Tiroler Hütten. Mit 17 verliebt er sich. Seine Freundin sieht er mittwochs, freitags und am Wochenende. Bleibt genug Zeit zum Spielen.

Bücher interessieren Paul nicht. Zu langsam, was seinem Gehirn dabei geboten wird. „In der Zeit, in der ich drei Seiten lese, kann ich online so viel mehr machen.“ Es gibt ja nicht nur die Spiele: Da sind die vielen Kanäle drum herum, auf denen Profis ihre Matches streamen, analysieren und irrwitzige Tricks zeigen. Caps ist so einer. Ein 21-jähriger Däne, vielfacher Europa-Champ bei „League of Legends“ und wahrscheinlich längst Millionär. Bei ihm lernt man, wie man gewinnt.

Youtuber mit zwei Millionen Abonnenten

Wem folgt Paul sonst noch? Er muss lange überlegen: „Hand of Blood“. Der 28-jährige Youtuber stellt Spiele vor, kommentiert sie, reichert das Ganze mit ein paar Grimassen und Faxen an und bietet seinen zwei Millionen Abonnenten ein bisschen Pausenhof-Clownerie.

„Pietsmiet“: Fünf Jungs machen Raterunden wie: „Welches sind die meistgestreamten Vod-Produkte in Deutschland?“ „Umbrella Academy“ ist dabei, „Arrow“, „The Blacklist“. Oder sie stapeln Becher um die Wette, und 2,4 Millionen schauen zu. Oder sie spielen „Among us“, eine Art virtuelles Gesellschaftsspiel: „Ich hab Kalle nicht gesehen.“ – „Ich hab Dadosch kurz gesehen mit DiZee im Storage.“ – „Im Lower Engine haben sich zwei Leute gekreuzt.“ Unterhaltung, die im Fernsehen gewiss nicht schlechter ist. Aber hier tummelt man sich im Jugenduniversum. „Mit Online-Spielen allein hätte ich kein ernstes Problem bekommen“, sagt Paul. „Es ist die Internetsucht.“

Hochschwellige Reize mag er nicht

Paul schaut kein TV mehr. Beim Zappen findet er kaum mehr was, wo er hängen bleibt. Sich überraschen lassen von einem Landschaftsfilm über Masuren, den man niemals gezielt ausgewählt hätte? Von einer Löwendoku aus Botsuana? „Das haut nicht hin mit den Glückshormonen“, sagt Paul. Zu hochschwellige Reize. Einen Abend im Kino sitzen und sich auf einen Film konzentrieren? Besser eine Netflix-Serie gucken und nebenbei mehrgleisig fahren. Bei Paul sieht das so aus: „Playstation auf dem großen TV-Monitor, nebenher am Laptop ein Fußballspiel schauen, zugleich youtuben auf dem Handy und dabei noch was essen.“ Hochgeschwindigkeitskonsum. Multikanalmanagement. Auch der geliebte Fußball ist live keine Freude mehr. Alles so langweilig. Man kann nicht mal vorspulen. Dann lieber später die Highlights angucken.

„Das Hirn ist zu vernetzt für einfache Dinge. Er muss einen klaren Kopf kriegen und von der zehnspurigen Straße auf eine Spur runterkommen“, sagt Pauls Therapeutin Karin Ibele-Uehling, die sich im Stuttgarter ITAS-Institut auf Glücksspielsucht spezialisiert hat. Das nächste Ziel ist jetzt, wieder langsamere Phasen in sein Leben zu lassen.

Beim Praktikum beginnen die Probleme

A n der Stuttgarter Privathochschule läuft es zunächst reibungslos. Paul geht in die Seminare, schreibt mit. Geht mit den anderen zur Mensa, danach in die Bibliothek. Eine Art Gemeinschaftsprojekt, begleitet von guten Noten.

Beim Praktikum in Berlin beginnen die Probleme, das hat Paul in den vergangenen Wochen rekonstruiert. Er geht in keine Sporthalle mehr, wo er sonst immer schnell Anschluss findet. Er sucht sich keinen Ausgleich mehr. Sechs Monate nur arbeiten und zocken. „Hör auf damit!“, sagt er sich damals. Er hört nicht auf.

Zurück in Stuttgart. Corona-Zeit. Am Morgen weckt ihn das Handy, das neben dem Bett liegt. Paul schaut mal kurz: Was hat Caps so gemacht? Probiert dann, es ihm nachzumachen. Kriegt es nicht hin. Vertändelt sich. Irgendwann sitzt er doch im digitalen Audimax bei der virtuellen Vorlesung. Wie einfach es ist, da nebenher noch andere Tabs aufzumachen.

Parallel zur Vorlesung läuft ein Youtube-Filmchen. Auf der rechten Leiste wird ein anderes vorgeschlagen. Das macht ihn auch neugierig. Paul switcht um mit einem Klick. Und wenn nicht, spielt Youtube halt am Ende des Videos automatisch das nächste. „Die wissen, was mir gefällt“, sagt Paul. „Die wissen das genau.“ Also rät er mit „Pietsmiet“ Filmposter, während der Professor ungehört über Eventmarketing-Strategien doziert.

Das Gefühl, innerlich auszufransen

„Man gräbt sich immer tiefer ins Hasenloch“, sagt Paul. Der Professor ist fertig, Paul nicht. Er kann am Abend nicht mal sagen, was er den ganzen Tag lang angeschaut hat. Letztlich belangloses Zeug, das nicht kleben bleibt. Nichts in einem hinterlässt. Höchstens eine Leere – und das Gefühl, innerlich auszufransen. Eigentlich drehen sich die Videos auch immer nur um das Gleiche. Paul schmort im eigenen Saft. „Soziale Medien sind deutlich gefährlicher als Fernsehen.“

Er findet kaum noch Themen, über die er sich mit den Eltern unterhalten kann. Es passiert ja nichts in seiner Welt. Und eigentlich hat er auch gar keine Lust auf Gespräche. Lästig. Sein Platz ist vor dem Bildschirm, da gehört er hin. Er ruft den Vater kaum mehr an. Zeitverschwendung. Er lässt den Kontakt zu seinen Freunden schleifen. Alles so viel Realwelt-Aktion. Es geht ihm schon auf die Nerven, wenn seine Freundin fragt: „Was machen wir am Wochenende?“ Manchmal erwischt er sich beim Gedanken: „Geh doch jetzt! Geh doch!“ Damit er endlich in die Untiefen des Internets gleiten kann. Ohne Anfang, ohne Ende. „Ganz schlimm, echt.“

Es hat ihn erwischt

Im April ist Abgabe der Semesterarbeiten. Er hat keine einzige gemacht. Weil man aber in Corona-Zeiten nicht so streng sein will, darf Paul ins nächste Semester. Muss er die Arbeiten eben nachholen. Er sagt sich jeden Tag: „Morgen fange ich an.“ Am nächsten Tag sagt er es wieder. Stattdessen sitzt er rund um die Uhr vor dem Rechner und mehreren anderen Medien drum herum. Er freut sich nur noch auf die Zeit vor den Geräten. „Den Druck habe ich wohl verdrängt. Mit den Videos denkt man dann auch gar nicht mehr an was anderes“, sagt Paul. „Das schlechte Gewissen kommt in der Nacht.“

Am Ende des Sommersemesters liegt er acht Hausarbeiten zurück. Es hat ihn erwischt. Das Durchrutschen ist jetzt aus. Er wird mindestens ein Semester verlieren, das die Eltern finanzieren müssen. Zum ersten Mal dringt seine Sucht nach außen und wirkt bis in die echte Welt.

Die Mutter erfährt es als Erste. Sie ist entsetzt. Sucht dann aber gleich nach Lösungen. Die Freundin sieht sein langes Schweigen als Vertrauensbruch. „Aber sie ist ein so toller Mensch, dass sie bei mir bleibt.“ Alle sind jetzt sehr „supportive“, wie Paul sagt. Die Freundin fragt oft: „Was kann ich tun?“ – „Sei einfach auf meiner Seite.“ Die Mutter treibt ihn oft an: „Auf jetzt, mach! Vorwärts.“ Alles soll schnell wieder funktionieren. „Es ist schwierig für sie, meine Lage zu verstehen“, sagt Paul. Der Stiefvater will ihm einen Studierplatz in seiner Kanzlei einrichten. Paul lehnt ab. „Man muss aufpassen, ihn nicht wie ein Kind zu behandeln“, sagt Karin Ibele-Uehling.

Die Vielleicht-Generation

Einmal die Woche ist Therapie. In Einzelsitzungen versucht Paul, sich besser verstehen zu lernen: Was für ein Mensch bin ich? „Auf jeden Fall ein geselliger Typ, kein Einzelgänger“, sagt er. „Und ein Gerechtigkeitsfanatiker.“ In seiner Fußballmannschaft war er immer der Kapitän.

„Wir sind die Vielleicht-Generation“, glaubt Paul. „Wir sagen: ,Vielleicht könnte ich das machen, vielleicht auch jenes.‘ Und weil wir nichts selbst in die Hand nehmen, treffen am Ende andere die Entscheidungen für uns.“ Die Suche nach einer Therapeutin hat er selbst in die Hand genommen. Manchmal muss man sich erst verlieren, um sich zu finden.

Das Studium liegt auf Eis. Paul arbeitet jetzt als Werkstudent in einem Sportgeschäft. Es tut gut, was Praktisches zu machen. Sein Zimmer im Dachgeschoss des Elternhauses hat er zur Sperrzone für elektronische Geräte erklärt. Morgens schellt jetzt ein analoger Wecker. Er geht jeden zweiten Tag laufen. Eigentlich nicht so sein Ding, aber Mannschaftssport ist ja gerade nicht möglich. Er sucht wieder Kontakt zu den Freunden. „Ich hole die Dinge zurück, die mir gutgetan haben.“

Morgens liest er Zeitung – ohne Laptop daneben. Wenn er einen Film im Fernsehen schaut, legt er das Handy weit weg in die Küche. Er setzt sich wieder öfters ans Klavier: „Ich würde gern einfach spontan was Schönes spielen können.“ Überhaupt: was Schönes machen. Überhaupt: was machen. Er steht ganz am Anfang. Der Drang nach dem Digitalen ist noch stark.