Helmut Bergdolt praktiziert noch drei Tage in der Woche, macht Sprechstunden und Hausbesuche Foto: /Gottfried Stoppel

Von seinem Beruf kriegt Helmut Bergdolt einfach nicht genug. Mit über 90 Jahren arbeitet er immer noch als Hausarzt in Wiesloch. Ein Porträt aus unserer Reihe "Lesenswert aus 2023"

Als der Durchfall grassierte, hat Helmut Bergdolt sich keine Freunde gemacht. 80 Passagiere hatten sich auf einer Reise zu den Philippinen die Seuche geholt. Der junge Schiffsarzt verdonnerte die Crew dazu, das ganze kontaminierte Wasser aus dem Tank vor Gebrauch abzukochen. Ein Mordsaufwand. „Die haben mich verflucht“, erinnert sich Bergdolt.

 

Er beendete schließlich seine Karriere auf See und wurde Hausarzt in Wiesloch. Schiffsreisen gönnt er sich nicht einmal im Rentenalter mehr. Ein Rentnerdasein will Helmut Bergdolt nämlich partout nicht führen. Mit 94 Jahren ist er der älteste praktizierende Arzt in ganz Baden-Württemberg.

Die Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg sind im Schnitt 55 Jahre alt. Als Bergdolt seine Approbation bekam, seine Zulassung als Arzt, war Konrad Adenauer Bundeskanzler. Elizabeth II. bestieg den britischen Königsthron, die Deutschen entdeckten Toastbrot und Ananas, Frauen trugen Caprihosen, und auf Kinoleinwänden zankten Don Camillo und Peppone – in Schwarz-Weiß.

Die Kindheit in einer Juristenfamilie

Das war 1952, vor mehr als 70 Jahren. Seitdem kümmert sich Bergdolt um Kranke. Einen anderen Berufswunsch hat er nie gehabt. Eine andere Passion auch nicht. Bergdolt ist einer dieser Menschen, neben denen man sich stets ein bisschen beschämt fühlt, weil sie für ihre Arbeit dermaßen brennen, dass sie keine Freizeit brauchen. „Die Medizin ist mein Hobby“, sagt er. Wenn er anderen helfen könne, sei er zufrieden.

Leicht war es nicht bis zur Zufriedenheit. Helmut Bergdolt kam 1928 in einer Juristenfamilie in Sinsheim zur Welt. Der Zweite Weltkrieg ruinierte seine Jugend. Als 15-Jähriger wurde er eingezogen, zunächst als Luftwaffenhelfer, dann als Infanterist der Deutschen Wehrmacht. Aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Heilbronn kehrte er als Hänfling von 40 Kilo zurück.

Der Krieg hatte allerdings auch die akademische Infrastruktur zerstört, Lehrstühle für Medizin waren rar. Bergdolt schrieb sich in Passau ein, dann in Regensburg. Für die hohe Heilkunst brauchte es nach dem Krieg aber eher Schmalz in den Armen denn magische Hände: Studenten, die einen Präparierkurs belegen wollten – also an Leichen jeden Muskel und jedes Organ mit Skalpell und Pinzette freilegen, um zu kapieren, wie ein Körper funktioniert –, mussten zunächst 100 Stunden Aufbauarbeit leisten.

Helmut Bergdolt schleifte Steine und reichte sie Bauarbeitern, die das zerbombte Gebäude über dem Keller mit dem anatomischen Institut wieder hochzogen. Sein Studium schloss er an der Universität Heidelberg ab, er promovierte, ließ sich zum Facharzt für Innere Medizin und Radiologie weiterbilden. Nach dem Examen fuhr er für fünf Tage nach Italien. Italien! Für damalige Verhältnisse eine Sensation. „Die heutige Jugend lebt im Überfluss“, sagt er.

Als Schiffsarzt nach Ostasien

In den ersten Jahren arbeitete er als Assistenzarzt an verschiedenen Krankenhäusern, dann bewarb er sich als Schiffsarzt. Das war aufregend, auf einem Schiff war er noch nie zuvor gewesen. Er reiste von Hamburg und Bremen aus mit nach Südamerika und Ostasien. Mehr als hundert Passagiere, mehr als hundert Leiber mit Wehwehchen-Potenzial. Viel Arbeit, kein Team im Rücken wie in einer Klinik, viele einsame Entscheidungen, die zu treffen waren. Wie seine Anti-Durchfall-Anordnung.

Dass er eine Zusage für eine weitere Reise in die Karibik ausschlug, lag jedoch nicht am Anforderungsprofil eines Schiffsarztes. Es lag an Grete. Die junge Frau aus Norddeutschland hatte er während seiner Zeit an der Heidelberger Uniklinik kennengelernt, sie arbeitete dort als medizinisch-technische Assistentin. Grete begeisterte Helmut Bergdolt noch mehr als die Weltmeere. Also blieb er an Land und erfand irgendwelche medizinischen Gutachten, nach denen er sich andauernd bei ihr erkundigte. Die Masche hatte Erfolg. Die beiden heirateten, bekamen zwei Kinder und zogen nach Wiesloch, wo Bergdolt 1961 eine Praxis eröffnete.

Wieder raus aus der 26 000-Einwohner-Stadt, zurück an ein Krankenhaus? In den Riesenapparat eines Uniklinikums? Das wollte er nicht mehr: „Ich bin gerne unabhängig.“ Als Hausarzt weiß er nach drei Wörtern, was seine Patienten plagt. Ein Klinikarzt hat keine Zeit, solche Antennen zu entwickeln.

Und Furore in der Fachwelt machte Bergdolt auch als Niedergelassener. Denn da waren diese Herzinfarktpatienten, die ihn nicht losließen. Bis in die 1970er war es Konsens in der Medizin, Betroffene nach einem Infarkt sechs Wochen ins Bett und danach noch drei Wochen in eine Reha zu beordern – und zum Schonen, Schonen, Schonen. Zurück zu Hause waren viele völlig verunsichert und trauten sich kaum mehr, zehn Schritte alleine zu gehen.

Bergdolt hatte sie gesehen, vorwiegend männliche Patienten Ende 50. Kein Alter. „Aber das waren gebrochene Männer nach ihrem Infarkt.“ Bergdolt fand: „Ich muss die Leute aus ihrem Tief holen.“ Er setzte auf Bewegung statt Angststarre und gründete 1973 eine sogenannte ambulante Infarkt-Rehabilitationsgruppe. Heute gibt es die in jedem Flecken, damals starteten erst einzelne Hochschulen in Großstädten ähnliche Versuche. Helmut Bergdolt war mit seiner Herzsportgruppe direkt am Wohnort der Betroffenen ein Pionier. Er betreut sie immer noch, auch wenn er beim Hallenhockey und Laufen inzwischen lieber zuguckt. Über die Ergebnisse freut er sich wie ein kleines Kind: „Es ist fantastisch, wie die Leute aufblühen und wieder richtig springen können!“

Fettarme Wurst

Verbesserungsbedarf sah er auch in den Wursttheken seiner Stadt. Das gab es leckere Sachen, aber auch ziemlich fettige. Ziemlich schlecht für die Pumpe. Also scharte er sämtliche Wieslocher Metzger um sich und fuhr mit ihnen nach Oberaudorf. Die Mitarbeiter eines Instituts dort wussten, was Menschen essen sollen, wenn sie fit bleiben wollen – und wie man es herstellt. Damals keine weitverbreitete Expertise. So lernten ein Arzt und zehn Metzger vom Rande des Odenwalds in einem Dorf in Bayern, wie man fettarme Würste macht. Hintergrund der Wurstexkursion war ein Präventionsprojekt, das Bergdolt 1974 ins Leben gerufen hatte: Mit Ernährungsvorschlägen, Sport, Gesprächsrunden sollte es Risikogruppen zu einem gesunden Lebensstil ermuntern, damit es gar nicht erst zum Infarkt kommt. Auch das ein Novum. Für sein Engagement ist er hochdekoriert, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz.

1999 hat Sohn Holger die Praxis übernommen und zum Medizinischen Versorgungszentrum ausgebaut. Helmut Bergdolt arbeitet drei Tage in der Woche dort, macht Sprechstunden und Hausbesuche.

Dinge haben sich verändert. Viel Technik ist dazugekommen. Heute können Ärzte bei der Endoskopie, also der Betrachtung von Organen von innen, gleich Gewebeproben nehmen. Was für den Medizinstudenten Helmut Bergdolt Science-Fiction war, gehört zum Alltag des 94-Jährigen. An Patienten hat er alles erlebt. Ängstliche, fordernde, gutmütige, aggressive. Der Trick? „Man muss jeden nehmen, wie er ist. Nicht, wie ich ihn haben will.“

Helmut Bergdolt hat 30 Sportabzeichen abgespult, heute schwört er auf Spaziergänge. Das sei die beste Vorsorge gegen Schlaganfälle und Herzinfarkt, billig und nachhaltig. Morgens isst er Marmeladebrot, abends eines mit Wurst, fettarm, klar. Ansonsten gemischte Kost, man müsse halt seine Mengen kennen. Nicht vegetarisch, nicht vegan, „ganz normal“. „Normal“ ist sein Lieblingswort, wenn er über sich selbst redet. Drei Wochen im Jahr macht er Urlaub mit Grete, nichts Ausgeflipptes, Wandern in Österreich. Ganz normal.

Jahrzehntelang war er Gemeinderat und Kreisrat, seine Tage waren lang. Mit seiner Frau hat er einen Kunstverein gegründet und etwa dafür gesorgt, dass an einem Wieslocher Brunnen heute eine Schutzengel-Skulptur steht, die einem Raumschiff entsprungen zu sein scheint. Künstler trifft er gern. Dann sieht er, dass man auch ganz anders und in den Tag hineinleben kann. Hat er gar selbst entsprechende Ambitionen? „Nein, nein, nein“, ruft Helmut Bergdolt. Kein Talent. Man müsse seine Grenzen kennen.