Brutale Revierkämpfe sind in der belgischen Hauptstadt an der Tagesordnung. Die Politiker vor Ort stehen der Entwicklung hilflos gegenüber.
Abgeschnittene Finger, gebrochene Arme oder von Kugeln durchsiebte Körper, die Polizei spart bei ihrer Aufzählung nicht mit unappetitlichen Details. In Brüssel habe die Gewalt im Drogenmilieu ungeahnte Ausmaße angenommen, alarmieren die Beamten. Sechs Tote und 20 Schwerverletzte wurden in der belgischen Hauptstadt im ersten Halbjahr 2023 verzeichnet, so viele wie nie zuvor. Das aber ist nur die Statistik. Was die Polizei beunruhigt ist, dass die Brutalität in der Szene dramatisch zugenommen habe. Von eskalierenden Revierkämpfen zwischen rivalisierenden Clans ist die Rede, Entführungen und Liquidationen nach „Mafiaart“. Kamen dabei bisher meist Messer zum Einsatz, werden inzwischen auch Sturmgewehre vom Typ AK-47 benutzt.
Die brutale Rache der Hintermänner
Der Brüsseler Rechtsanwalt Sven Mary berichtet in der Tageszeitung „Le Soir“ von einem jungen Mann, der als Drogenkurier arbeitete. Da der Heranwachsende selbst abhängig war, habe er sich immer wieder bei den ihm anvertrauten Drogen bedient. „Es ist ein bisschen so, als würde man einer Katze eine Schüssel Milch vor die Nase stellen, die sie beaufsichtigen soll“, so Sven Mary. Als die Hintermänner den Diebstahl bemerkten, folterten sie den Mann – und prügelten ihn dann zu Tode. Mary vertritt die Familie des Toten vor Gericht.
Die Polizei dokumentiert die Verbrechen inzwischen sehr genau, gibt sich aber keinen Illusionen hin. Sie ist überzeugt, dass die Dunkelziffer in dem äußerst verschlossenen Milieu wesentlich höher liege. In der Regel würden die Opfer keine Anzeige erstatten oder die Verletzungen von den Krankenhäusern nicht gemeldet. Es gelte das Gesetz des Schweigens. „Das Phänomen ist wesentlich größer, als die Statistiken zeigen“, heißt es von Seiten der Polizei.
Antwerpen ist Hochburg des Drogenhandels
In Belgien galt bisher vor allem Antwerpen als Hochburg der Drogenkriminalität. Die knapp über eine halbe Million Einwohner zählende Stadt ist in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Umschlagplätze für Drogen in Europa geworden. Im vergangenen Jahr wurden allein im Hafen mehr als 100 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Die Drogen werden von dort aus über den ganzen Kontinent verteilt.
Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folge für das Leben in der Stadt. Antwerpen wird geradezu überrollt von einer Welle von Gewalt im Zusammenhang mit Drogenkriminalität. Immer wieder kommt es zu Schießereien und Bombenanschlägen. Der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever spricht von einem „Drogenkrieg“. Erst im Frühjahr wurde ein elfjähriges Mädchen getötet, Unbekannte feuerten auf ein Haus im Stadtteil Merksem. Bei dem Mädchen handelte es sich um die Nichte eines berüchtigten Drogenschmugglers.
Der Justizminister sollte entführt werden
Ende 2022 wurde sogar ein Entführungsversuch des belgischen Justizministers Vincent Van Quickenborne vereitelt. Der Politiker ist im Land überaus populär, auch weil er der ausufernden Drogenkriminalität den Kampf angesagt hat. Er stattete etwa die Behörden mit mehr Personal aus, schuf eine neue Ermittlungsbehörde für den Hafen und schloss einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Arabischen Emiraten ab. Dafür sollte er offenbar büßen.
Nun schwappt diese Gewalt nach Brüssel. Als Grund nennt die Polizei, dass der Kampf um die „Territorien“ schärfer geworden sei. In der Hauptstadt hätten inzwischen albanische Clans die Führung übernommen, für die Brüssel eine Art logistischer Knotenpunkt geworden sei. Die importierten Drogen würden von dort nach Südosteuropa weitertransportiert. Die lokalen Politiker stehen der Entwicklung hilflos gegenüber. „Wir müssen dagegen ankämpfen“, betont zwar Fabrice Cumps, seit 2020 Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Anderlecht. Dort befindet sich die schmucklose Hochhaussiedlung Peterbos, ein Zentrum des Drogenhandels. Aber er räumt ein: „Die Banden sind so organisiert, dass es für uns schwierig ist.“ Cécile Jodogne, Bürgermeisterin von Schaerbeek, einem Viertel von eher zweifelhaftem Ruf, erklärt, dass die Politiker vor Ort allenfalls den Straßenhandel bekämpfen könnten. Wichtiger sei es aber, die Hintermänner auszuschalten.
Die machtlosen Politiker in Brüssel
Das ist nach Einschätzung der europäischen Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA in Lissabon ein Kampf gegen eine Hydra. Der illegale Kokainhandel gilt als eine der lukrativsten Einnahmequellen für die organisierte Kriminalität in Europa. Fachleute schätzen den Schwarzmarktwert des jährlich gehandelten Stoffes auf zehn Milliarden Euro. Damit zusammen hänge eine Korruption im großen Stil, wie die EU-Beobachtungsstelle unterstreicht. Hafenarbeiter, private Wirtschaft, Regierungsangestellte – alle hingen zum Teil in den Drogengeschäften mit drin.