Tobias Dierks (rechts) und seine Frau 2011 in New York. Foto: privat

Tobias Dierks liebt die USA und hat eine Amerikanerin geheiratet. Doch ihre Kinder wollen sie in Deutschland aufziehen – aus Angst vor Amokläufen. Die neue Jugendbewegung lässt sie wieder hoffen.

Frankfurt - Ein Foto zeigt Tobias Dierks und seine Frau, wie sie 2011 in New York vor einem Mittelaltermuseum stehen. Sie lachen unbeschwert und genießen den sonnigen Tag an der Ostküste der USA. Die Begeisterung in seinem Gesicht steht für die Begeisterung, die der 45-jährige studierte Soziologe aus Frankfurt für die Vereinigten Staaten empfindet. Er kennt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sehr gut und hat viele Freunde dort. Hat von 1989 bis 1990 in Texas gelebt und von 2011 bis 2012 in New York, ist mit einer Amerikanerin verheiratet. Dierks kennt die liberale Westküste und hat Verwandte in der konservativen Landesmitte. Und doch sagt er: „Wir möchten nicht, dass unsere Kinder in diesem Amerika aufwachsen.“ Auch deswegen haben die beiden strahlenden Menschen von dem Foto die Entscheidung getroffen, als Familie in Deutschland zu bleiben.

Das hat mit dem Amoklauf in Florida zu tun, mit den vielen anderen Schießereien seit dem Columbine-Massaker im Jahr 1999, mit der Polizeigewalt gegen Schwarze, mit der kulturellen Entfremdung und dem Hass, den er zwischen den beiden Amerikas wahrnimmt, dem liberalen und dem konservativen, Midwest und Großstädten, Demokraten und Republikanern. „Die USA sind eine angstgetriebene Gesellschaft geworden“, sagt Tobias Dierks, der in New York bei den Vereinten Nationen für Unicef gearbeitet hat und jetzt in Frankfurt für eine internationale Organisation tätig ist. Es ist die neue Bewegung von jungen Schülern um die Amoklauf-Überlebende Emma Gonzalez, die den Deutschen wieder hoffen lässt: „Das sind die neuen 68er, die einen Generationenkonflikt mit ihren Eltern ausfechten.“

Kulturelle Entfremdung als Ursache der Gewalt

Ein Kulturkampf, wie ihn die Nachkriegsgeneration in den 1968ern mit den ehemaligen Tätern des Dritten Reiches ausgefochten hat? Ein Wendepunkt in der von Hysterie und Paranoia dominierten Diskussion? Historische Vergleiche stimmen niemals in allen Details. Doch blickt man auf die seit 20 Jahren ständig zunehmende Polarisierung der USA, politisch wie ökonomisch, das Auseinanderdriften der Gesellschaft, kann man seinen Vergleich besser verstehen.

Tobias Dierks erzählt dazu eine Geschichte, die er selbst in Amerika erlebt hat und die für ihn symbolisch ist für diese Entwicklung. Als er 2011 in New York mit seinem Sohn auf dem Spielplatz war, flog ihnen ein fremder Ball entgegen. „Ich habe ihn genommen und bin lachend auf das Mädchen zugelaufen, dem er gehört hat.“ Plötzlich sah er sich zwei Müttern gegenüber, die ihn aggressiv wegdrängten. Sie dachten, er wolle sie entführen. Eine Szene, die für die allgegenwärtige Angst vor Gewalt und Verbrechen steht.

Einer solchen Atmosphäre wollen Tobias Dierks und seine Frau die inzwischen fünf und neun Jahre alten Kinder nicht aussetzen. Das beginnt in den Schulen, in denen es regelmäßig „Drill“ gibt, Amoklaufübungen, bei denen man sich im Klassenzimmer verschanzt. „Es wird den Kindern vermittelt, dass jederzeit ein Verrückter mit einer halb automatischen Waffe auf sie schießen kann“, sagt er. Doch die kulturelle Entfremdung macht der 45-Jährige auch an der Entgrenzung des politischen Diskurses aus. Es hat sich etwas verändert, seit er 2012 zurückkam aus den USA, und noch mehr seit er sie 1990 zum ersten Mal verlassen hat. Vor sechs Jahren regierte noch Barack Obama, die Stimmung war weltoffen und unbeschwert, zumindest in New York.

Warum manche Freunde Obama umbringen wollen

Seither hat sich viel verändert. Auch dafür hat er ein Beispiel. Gute Freunde haben ihm einmal offen gesagt: „Obama muss umgebracht werden. Der ist ein Verbrecher.“ Die in solchen Aussagen enthaltene Delegitimierung des politisch Andersdenkenden ist es, die Tobias Dierks erschreckt.

Die kulturelle Entfremdung, oder wie er es nennt, die „Desintegration der Gesellschaft“, ist für ihn die tiefere Ursache für Amokläufe und um sich greifende Waffengewalt. Wobei der 45-Jährige nicht einstimmen mag in den Chor der Trump-Hasser, die undifferenziert in den weißen Waffennarren des Mittleren Westens nur verblendete Fundamentalisten sehen. Dazu hat Tobias Dierks in den USA zu viele Graustufen gesehen. „Es geht den Menschen um ihre Identität, die aus der Besiedlung Amerikas herrührt“, sagt er, „man will sich verteidigen können. Im Zweifel auch gegen eine Diktatur aus Washington.“

Die Kraft der Jugend gegen Trumps Angst

Darin steckt für ihn auch ein gesunder Kern föderalen Denkens. Das gilt auch für die Identität der konservativen Südstaaten-Bewohner, die sich dagegen wehren, dass die Denkmale der Generäle des Bürgerkrieges geschleift werden. „Das halte ich für falsch“, sagt der zweifache Vater.

„Das Problem ist nur, dass die Entwicklung zu extrem geworden ist“, sagt er. Im zweiten Zusatz zur US-Verfassung war von Pulvergewehren die Rede, nicht von halb automatischen Kriegswaffen. Nicht von einer Ideologie und einer milliardenschweren Waffenlobby der National Rifle Association. Deswegen unterstützt Tobias Dierks in den sozialen Medien die Jugendbewegung von Emma Gonzalez und ihren Altersgenossen, hat zum Beispiel auf Facebook die Seite „March of our life“ markiert, und mischt sich in die Diskussionen in den Foren ein. Er hofft auf die Kraft der Jugend, die zum ersten Mal eine Gegenbewegung zu Trumps Angstbotschaften bilden könnte.

Ändert eine neue 68er-Generation die politische Kultur?

Dass sich der US-Präsident am Mittwoch mit den Schülern trifft, die abseits aller Regeln der US-Politik schärfere Waffengesetze fordern, ist für Tobias Dierks ein Zeichen, dass sie etwas bewegen können. Vielleicht könnte Emma Gonzalez’ Wutrede eine ähnliche Wirkung haben wie Martin Luther Kings berühmtes „I have a dream“? Und vielleicht könnten er und seine Familie wieder die USA erleben, die sie kennen und lieben. „Es sind die Wähler von morgen, die sich dort erheben“, sagt Dierks und lächelt, „das muss auch im Kongress und im Weißen Haus ernst genommen werden.“ Die Hoffnung hat einen Hashtag, es ist das Zeichen der Überlebenden des Massakers der Highschool in Florida: #Neveragain.