Die Wasserrettung naht: DLRG-Männer proben mit ihrer knallroten, 55 Kilometer pro Stunde schnellen und sturmtauglichen Albatros für Notfälle, wie sie jetzt im Sommer fast alltäglich sind. Foto: Daniel Völpel

Jährlich erreicht die Zahl der Toten und Verletzten im Bodensee neue Extremwerte – weil viele das Naturgewässer unterschätzen. Eine Übung mit der DLRG Konstanz, die vergangenes Jahr 113-mal ausrückte.

Konstanz - Vor der tief stehenden Abendsonne rast die knallrote, sieben Meter lange Hermann Hölderle auf dem Bodensee heran. An Bord: fünf Retter mit ernsten Gesichtern, die Augen hinter dunklen Sonnenbrillen. Ihr Ziel: die Philipp Hund. Auf dem Schiff steht eine Frau und ruft ihnen aufgeregt entgegen: „Mein Mann, mein Mann, ihm geht’s nicht gut.“ Einer vertäut das Schiff mit dem Rettungsboot, einer bereitet die medizinische Ausrüstung vor, einer bleibt am Steuer, zwei Sanitäter springen hinüber, klettern durch die niedrige Tür die Stufen in die enge Kajüte hinab, wo der Patient zusammengekrümmt liegt.

Clemens Menge Foto: privat

Vom Heck der Philipp Hund aus beobachtet Clemens Menge das Geschehen, in den kräftigen Händen einen kleinen Block und einen Stift. Groß gewachsen, von kräftiger Statur, braun gebrannt mit rötlichem Vollbart, erinnert er an den „Seewolf“ Larsen in Wolfgang Staudes Verfilmung von 1971. Doch Clemens Menge verkörpert das Gute: Der 37-Jährige ist Einsatzleiter der DLRG-Ortsgruppe Konstanz und Retter aus Leidenschaft. Er und seine Kollegin Svenja Fuchs beobachten jeden Handgriff seiner Kollegen. Dieses Mal ist es nur eine Übung. Doch der Ernstfall tritt immer öfters ein hier auf dem Bodensee.

113 Einsätze im vergangenen Jahr

113-mal mussten allein die Konstanzer Ehrenamtlichen der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft im vergangenen Jahr ausrücken. Von Markelfingen im Untersee bis hinter Wallhausen im Überlinger See reicht das Einsatzgebiet – 34 Kilometer Uferlinie. Hinzu kommen Teile des Obersees. Rund 70-mal wurden sie über ihre Piepser alarmiert: wegen Ertrinkungsunfällen, Booten in Seenot, Havarien, vermissten Schwimmern und Tauchern, Suizidgefährdeten oder Verletzten auf Booten. Im Winter kommen Eisunfälle dazu, gelegentlich müssen sie ein Auto oder sogar ein Flugzeug aus dem Wasser bergen.

Zu den übrigen knapp 50 Einsätzen kommt es während der Wochenendwachen im größten Konstanzer Freibad Horn sowie bei Großereignissen. Nicht nur beim Seenachtsfest sind die Retter mit bis zu 40 Freiwilligen vorbeugend unterwegs. Eine enorme Arbeitsbelastung: „Wenn man vor 15 Jahren zehn Einsätze pro Jahr hatte, dann war man wer“, sagt Menge. „Die Grenzen dessen, was ehrenamtlich leistbar ist, sind eigentlich überschritten.“

Neben der Zahl der Einsätze stiegen auch die „menschlichen und technischen Voraussetzungen, die man erfüllen muss“. Die Wasserretter werden auch deshalb immer öfter alarmiert, weil sie immer professioneller werden. Die DLRG kann im Wasser fast so viel wie draußen der Sanitätsdienst und die Feuerwehr zusammen: Menschen aus misslichen Lagen befreien, vom Grund eines Gewässers heraufholen und medizinisch versorgen oder mit Defibrillator wiederbeleben.

Die Aorta darf keinen Schaden nehmen

Inzwischen haben die zwei Retter den Verletzten an Armen und Beinen aus der Kajüte auf ein knallgelbes Spineboard gehievt, eine schmale Kunststofftrage. Vor Hitze und Anstrengung tropft ihnen der Schweiß aus den Haaren. „Benjamin, du hast eine Aortendissektion. So einen Fall hatten wir gestern Abend   im Hafen auf der Reichenau“, hatte Svenja Fuchs dem Darsteller zwei Stunden zuvor im Wasserrettungszentrum „Adlerhorst“ im Konstanzer Gewerbegebiet vorgegeben, während sie ihm mit einem Schwamm weiße Schminke ins Gesicht tupfte. Einen Erkrankten schonend zu retten, ohne dass dessen gefährdete Hauptschlagader Schaden nimmt, lautet die Übungsaufgabe für die Besatzung der Hermann Hölderle.

Während die beiden Boote wieder einmal heftig zu schwanken beginnen und aneinanderschlagen, weil unweit ein Fahrgastschiff vorbeizieht, legt einer der Helfer dem kreidebleichen Benjamin eine Beatmungsmaske über Mund und Nase. Er muss jetzt ganz schnell ins Krankenhaus. Zwei Männer heben die Trage an und bugsieren den Verletzten vorsichtig auf das schaukelnde Rettungsboot. „Fender rein, Boot nimmt Fahrt auf“, ruft der Bootsführer, schon rauscht die Hermann Hölderle in einem weiten Bogen davon. „Platzmanagement“ hat Clemens Menge groß auf seinen Zettel geschrieben. Das gefiel ihm nicht: „Erst haben sie den Erste-Hilfe-Rucksack auf dem eigenen Boot geöffnet, dann mussten sie ihn wieder schließen und herüberbringen. Dann lag er dort, wo der Patient hinsollte, und musste noch einmal woanders hin.“ Das kostet im realen Einsatz unnötig Zeit. Und dabei geht es oft genug um Leben und Tod.

Ein schwarzer Tag im Juli

Als schwarzer Tag in Erinnerung geblieben ist Clemens Menge der 4. Juli vergangenen Jahres: Gleich dreimal wurden er seine Kameraden zu Ertrinkungsunfällen gerufen, dreimal kamen sie zu spät und konnten die Schwimmer nicht retten. Die Opfer waren ältere Menschen mit Vorerkrankungen.

Seit Jahren steigt die Zahl der Unfälle mit Todesfolge oder schweren Verletzungen kontinuierlich. 2015 war wieder ein Jahr mit einem neuen traurigen Rekord: Insgesamt 19 Menschen starben auf dem Bodensee und im Hochrhein. Allein zwölf davon im Revier der DLRG Konstanz. Diese Entwicklung hängt für Clemens Menge vor allem damit zusammen, dass „seit dem Krisenjahr 2008/09“ der Bodensee als Urlaubsgebiet immer beliebter wird. „Da kommen aus ganz Deutschland Menschen, die denken: Ah, das ist Süßwasser, das kenne ich“, erzählt Menge. Doch wenn er Gerettete fragt, warum sie in die Situation geraten seien, erhält er meist dieselbe Antwort: „Ich habe den See komplett unterschätzt.“

Menge warnt: „100 Meter in einem Naturgewässer sind etwas anderes als 100 Meter im Freibad, wo ich den Rand habe, den Boden sehen kann und alle 25 Meter umdrehe.“ Im See gibt es Wasserpflanzen, steil abfallende Ufer, teils unerwartet hohe Wellen und Wind. Hinzu kommen große Temperaturunterschiede. „Das macht das Schwimmen anstrengender, viele überschätzen ihre Kräfte.“ Unterschätzt wird häufig auch die Witterung rund um den Bodensee. „Wenn die Sturmwarnleuchten angehen, kann sich das Wetter innerhalb von 20 Minuten komplett ändern“, sagt Menge.

1000 ehrenamtliche Stunden

In allen Orten kann man inzwischen Wassersportgeräte mieten. Immer mehr Menschen leisten sich heute auch ein eigenes Boot – können aber nicht unbedingt verantwortungsvoll damit umgehen. „Die Unvernunft ist um ein Vielfaches gestiegen“, sagt Menge. Speziell der Juli bringt die Lebensretter erfahrungsgemäß an ihre Grenzen. In dieser Hochzeit können schon mal zehn Alarme am Tag eingehen. 40 der rund 120 DLRG-Aktiven tragen die Alarmierungsgeräte am Gürtel. Jeweils etwa 20 eilen bei einem Notfall in den „Adlerhorst“ und von dort zum Einsatz.

Um die Leichtsinnigen retten zu können, steht an diesem Übungsabend im Schatten mächtiger Bäume des Freibads Horn genau dort, wo sich der Bodensee gabelt, das Einsatzleitfahrzeug der DLRG Konstanz. „85/94-3, Sie fahren vor der Spitze Horn das Boot an, dort eine verletzte Person“, krächzt es per Funk, als der Einsatzleiter die Besatzung des Rettungsboots anweist. „Abklären und retten!“ Als gelernter Schlosser und Ingenieur ist Clemens Menge für seinen Verein doppelt wertvoll: Er konstruierte auch die Einbauten etwa für das Einsatzleit- und das Spezialfahrzeug der Rettungstaucher sowie die Aufbauten der Boote.

Rund 1000 Stunden seiner Lebenszeit widmet Menge, im Hauptberuf Leiter der Technik bei einem Hersteller für Dampf- und Kondensatsysteme, jedes Jahr der DLRG. Als einer von fünf Bezirkseinsatzleitern ist er wochenweise im gesamten Kreis Konstanz unterwegs, um auch Einsätze anderer Ortsgruppen zu unterstützen oder zu führen. „Wenn man nicht mit so viel Herzblut und Engagement dabei wäre, würde das so nicht funktionieren“, sagt er.

Menge hat das Retter-Gen

Menge hat das Retter-Gen: Schon die Eltern waren in der DLRG, nicht lange nach der Geburt war er schon Mitglied. Als Kind lernte er in dem Verein schwimmen, als Jugendlicher wurde er Rettungsschwimmer. Später war er in der Jugendarbeit aktiv, ließ sich zum Wasserretter ausbilden und trat seinen Dienst in der Bootsgruppe an. Es folgten der Einsatztaucher-Lehrgang und die Führungsausbildung. Seine Frau lernte Clemens Menge im Verein kennen. Selbstverständlich sind auch Sohn und Tochter bereits DLRGler.

Die untergehende Junisonne hat den Dunst aus der Luft vertrieben, selten klar liegt das Säntis-Massiv rot angestrahlt am Horizont. Vor dieser Postkartenkulisse rauscht nun das 55 Kilometer pro Stunde schnelle und sturmtaugliche Sieben-Meter-Schlauchboot Albatros, der ganze Stolz der Ortsgruppe Konstanz, auf das Schiff mit dem Mann in Not zu, dass die Bugwellen in der Sonne gleißen und funkeln. Dieses Mal geht alles ganz schnell: Die Sanitäter legen routiniert an. „Wo ist er?“ Sie stürmen vorbei an der schockierten Ehefrau in die Kajüte. Keine drei Minuten später ist der schwer kranke Mann bereits an Deck und wird in das Schlauchboot gelegt, schon braust die Albatros wieder in den Konstanzer Trichter davon. „85/94-3 Anfahrt Jakobssteg zur Übergabe des Patienten an den Landrettungsdienst“, hört man den Bootsführer per Funk seine Meldung machen.

Ein gerettetes Leben

Am nächsten Tag wird, kaum dass Menge seinen Bereitschaftsdienst angetreten hat, ein 19-Jähriger beim Schwimmen im Seerhein versinken. Keine 15 Minuten nach dem Alarm holen die DLRG-Taucher ihn aus dem Wasser und reanimieren erfolgreich gemeinsam mit dem Notarzt. Der junge Mann kommt mit eigener Herztätigkeit ins Krankenhaus.

Für die Wasserretter bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, ob er durch die lange Zeit unter Wasser bleibende Schäden behalten wird. Am letzten Juniwochenende zieht ein Unwetter auf und beschert ihnen elf weitere Alarme. Anfang Juli ertrinkt vor Radolfzell wieder ein älterer Mann beim Schwimmen. Obwohl die Konstanzer Einsatztaucher diesmal sogar gemeinsam mit dem Notarzt im Rettungshubschrauber einfliegen, kommt jede Hilfe zu spät, der Mann stirbt. Allsommerlicher Ausnahmezustand am Bodensee für die Wasserretter aus Leidenschaft.