Vor dem 34. Spieltag der Zweiten Fußball-Bundesliga hat der VfB Stuttgart den Aufstieg bereits so gut wie in der Tasche. Dass dies alles andere als selbstverständlich ist, zeigt unser ausführliche Rückblick auf die bisherige Saison.
Stuttgart - Nun also doch – zumindest höchstwahrscheinlich: Nach einer Saison mit Höhen und Tiefen, mit Jubel, aber auch vielen Enttäuschungen steht der VfB Stuttgart vor dem Aufstieg in die Bundesliga. Vor dem letzten Spiel gegen Darmstadt 98 am kommenden Sonntag (15.30 Uhr) ist die Ausgangslage hervorragend – die Rückkehr in die erste Liga so gut wie sicher.
Lesen Sie hier: Unsere Einzelkritik zum VfB-Sieg in Nürnberg
Dass dies alles andere als selbstverständlich ist nach diesem Verlauf, zeigt ein Blick auf die vergangenen Monate.
Der Startschuss Offiziell erwacht der neue VfB Stuttgart am 19. Juni 2019 zu Leben. Tim Walter stellt sich vor – und schnell wird klar: Der neue Coach ist ein anderer als seine Vorgänger. Selbstbewusst, unerschrocken, auch mal deftig – und mit einem unkonventionellen Fußballstil unterwegs. „Meine Vorgehensweise ist, dass ich mutigen, attraktiven Fußball spielen lasse, der immer aktiv ist“, sagt der von Holstein Kiel gekommene Walter, „und so soll auch unser Handeln sein. Wir wollen das Heft des Handelns in der Hand haben und uns nicht irgendetwas vom Gegner aufzwingen lassen.“
Der Auftakt unter Tim Walter ist ein Erlebnis
Der erste Erfolg Im Auftakt-Heimspiel gegen Hannover 96 wird der Walter-Stil erstmals vor großem Publikum aufgeführt. Innenverteidiger rotieren über den Platz, Mittelfeldspieler wechseln die Seiten, der Torhüter agiert weit in der eigenen Hälfte, die Abwehr verteidigt nahe der Mittellinie. Es ist aufregend, spannend, mitreißend – und erfolgreich. 2:1 – doch es gibt auch die ersten Nackenschläge. Marcin Kaminski reißt sich das Kreuzband, das gleiche Malheur ist Stürmer Sasa Kalajdzic schon in der Vorbereitung passiert.
Der Bruch Zwar zeigen die folgenden Auftritte des VfB auch Verwundbarkeiten der eigenen Defensive auf, der Absteiger ist dennoch auf Kurs. Nach acht Spieltagen stehen sechs Siege und zwei Unentschieden auf dem Konto, Trainer Walter tönt: „Uns stellt keiner ein Bein.“ Doch dann kommt es völlig unerwartet zum Bruch. Gegen den Tabellenletzten SV Wehen Wiesbaden vergibt der VfB Chance um Chance und unterliegt 1:2. „Wir hätten wohl noch drei Stunden weiterspielen können und kein Tor erzielt“, meinte Philipp Förster. Das allein wäre nicht das Problem gewesen, es folgen aber die Niederlagen gegen Holstein Kiel (0:1) und beim Hamburger SV (2:6). Die Verletzung von Daniel Didavi schmerzt zudem.
Lesen Sie hier: Die Stimmen zum 6:0 des VfB in Nürnberg
Die Zweifel Der VfB steht wieder auf , gewinnt das Pokalspiel beim HSV, das Heimspiel gegen Dynamo Dresden und das Derby gegen den Karlsruher SC. Doch weitere Niederlagen in Osnabrück und Sandhausen nähren die Zweifel am neuen Kurs unter Tim Walter. Dazu kommen Kuriositäten: Beim Spiel in Sandhausen erzielt Mario Gomez drei Treffer – die nach Ansicht der Videobilder allesamt wegen knapper Abseitspositionen aberkannt werden. Der VfB dominiert nicht mehr, sondern schlittert durch den Herbst. Die Rückendeckung für den meinungsstarken Trainer schwindet schon da.
Am Tag vor Heiligabend muss Walter gehen
Die Trennung Zum Jahresabschluss muss der VfB bei Hannover 96 ran, über das Aus von Tim Walter wird bereits spekuliert, das Team legt eine grottenschlechte erste Hälfte hin. „Meine Situation hemmt die Jungs“, analysiert der Coach, nachdem am Ende noch ein 2:2 gelingt. Er beschreibt sich und das Team als „verschworenen Haufen“. Die Verantwortlichen sehen das bereits anders. „Wir gucken uns ganz sauber an, wie unsere Saison verlaufen ist. Da kommt alles auf den Tisch. Wir schauen uns die Tabelle an, wir schauen uns die Entwicklung an, wir schauen uns den Kader an und wir gucken, was wir besser machen können“, sagt Sportdirektor Sven Mislintat, „wir haben fünf Niederlagen und sind heute in der ersten Halbzeit knapp an der sechsten vorbeigeschrammt. Das ist nicht die Bilanz eines Aufsteigers. Der gesamte Prozess wird durchleuchtet.“ Nach zweieinhalb Tagen Analyse muss Tim Walter am Tag vor Heilig Abend gehen.
Lesen Sie hier: Unser Spieltagsblog zur Partie beim 1. FC Nürnberg
Der Neustart Am 7. Januar 2020 beginnt beim VfB die nächste neue Zeitrechnung – mit dem bis dato unbekannten Coach Pellegrino Matarazzo, der bis dahin Co- und Nachwuchstrainer in Hoffenheim war. „Ich denke nicht daran, was schiefgehen könnte, sondern daran, was wir erreichen können“, sagt der Italoamerikaner. Sein Fußball soll offensiv sein, es gehe ihm um „Spielkontrolle“, aber nicht um „Ballbesitz“. Zwei Spieler brechen ihm schnell weg. Die Argentinier Santiago Ascacibar (Hertha BSC) und Emiliano Insua (LA Galaxy) verlassen den VfB.
Der zweite erste Erfolg Das erste Pflichtspiel unter Matarazzo ist ein voller Erfolg. Gegen den 1. FC Heidenheim gelingt ein souveräner 3:0-Heimsieg. Der weitere Verlauf ist ähnlich wie unter Tim Walter, der VfB siegt und punktet weiter – bis zum 24. Spieltag. In Fürth unterliegt das Team 0:2, es folgt das 1:1 gegen Arminia Bielefeld, als sich Matarazzo erstmals rechtfertigen muss – für eine Auswechslung, die für den Gegner das Signal zum Angriff zu sein scheint. In der folgenden Corona-Pause macht sich der Coach rar, auch das Team schottet sich mehr und mehr ab.
Der Neustart misslingt komplett
Der Blues nach der Pause Am 17. Mai darf der VfB nach über zwei Monaten Corona-Pause wieder ran – und vergeigt den Neustart komplett. Der 1:2-Niederlage in Wiesbaden (mit einem strittigen Handelfmeter in der Nachspielzeit) folgt das 2:3 in Kiel (mit Gelb-Rot für Daniel Didavi). Dennoch verlängert der verein den Vertrag mit dem Trainer vorzeitig bis 2022. Gegen Hamburger SV gelingt zwar eine emotionale Aufholjagd (3:2 nach 0:2), die Matarazzo in die „Top-3 meiner Erlebnisse“ einreiht. Das erhoffte Erweckungserlebnis ist aber auch dieser Sieg nicht. Dem 0:0 gegen den VfL Osnabrück folgt der Tiefpunkt der Saison: das 1:2 beim Karlsruher SC samt einer bitter enttäuschenden Leistung.
Das Comeback Der Druck wird größer und größer – doch weil auch die Konkurrenz aus Hamburg regelmäßig patzt, sind die Aufstiegschancen noch intakt. Erst recht nach dem 5:1 gegen den SV Sandhausen. Matarazzo baut seine Mannschaft radikal um – und hat Erfolg damit. Schon nach 31 Minuten steht es 4:0. „Wenn man von seinen Spielern Mut verlangt, darf man selbst kein Angsthase sein“, sagt er hinterher und meint: „Ich habe auf mein Bauchgefühl gehört.“ Der VfB ist wieder Zweiter und hat wieder alles in der eigenen Hand.
Der letzte Schritt Nach dem weiteren Erfolg beim 1. FC Nürnberg ist es für den VfB Stuttgart nun noch ein letzter theoretischer Mini-Schritt bis zur direkten Rückkehr ins Oberhaus.