Gedenken an das Massaker an den Armeniern – Hier in Griechenland 2014 zum 99. Jahrestag. Foto: dpa

Nach Papst Franziskus hat das Europäische Parlament am Mittwoch darüber beraten, den Massenmord an den Armeniern als Völkermord zu bezeichnen. Doch wer legt eigentlich fest, was ein Völkermord ist und was nicht? Fragen und Antworten.

Worum wird in der sogenannten„Armenien-Frage gestritten?
Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Osmanischen Reich – dem Vorläuferstaat der Türkei – etwa 2,5 Millionen Armenier. Heute gibt es dort nur noch eine kleine armenische Minderheit. Im Ersten Weltkrieg sah die muslimische Regierung der Osmanen in den armenischen Christen innere Feinde und bezweifelte deren Loyalität im Kampf gegen den christlichen Kriegsgegner Russland. Es begann eine systematische Vertreibung und Vernichtung der Armenier. Nach unterschiedlichen Schätzungen kamen 1915/1916 bei Deportationen zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Menschen ums Leben.
Wie ist die Haltung der Türkei?
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat eine Anerkennung der Gräueltaten an den Armeniern als „Völkermord“ kategorisch abgelehnt. Die Türkei ist die rechtliche Nachfolgerin des Osmanischen Reichs. „Für die Türkei ist es niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen“, sagte Erdogan am Mittwoch in Ankara. Die Argument der Türkei sind seit Jahren dieselben: Nach ihrer Darstellung ist die Zahl der Opfer übertrieben hoch. Es handle sich außerdem nicht um einen gezielten Mord an einer spezifischen Gruppe, sondern um Opfer von Bürgerkrieg und Unruhen.
Eine zynische Frage: Kommt es bei der Definition von Völkermord darauf an, wie viele Menschen getötet wurden?
„Nein. Die Zahl der Opfer spielt für die Definition keine Rolle“, sagt Rainer Hofmann, Völkerrechts-Professor an der Goethe-Universität Frankfurt. Die Verurteilungen wegen Völkermordes, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, im Jugoslawien- oder auch im Ruanda-Tribunal zeigen das. In Ruanda wurden 1994 zischen 800 000 und einer Million Menschen getötet. In Srebrenica wurden 1995 den Angaben nach rund 8000 Menschen umgebracht.
Wie ist Völkermord rechtlich definiert?
„Was den Völkermord vom Massenmord unterscheidet“, so Völkerrechtsexperte Hofmann, „ist der Vorsatz, mit dem durch ihn Mitglieder einer bestimmten nationalen, ethischen oder religiösen Gruppe ganz oder teilweise vernichtet werden sollen.“ Der Begriff Völkermord ist in der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen definiert. Diese wurde am 9. Dezember 1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Bis heute haben 146 Staaten die Konvention angenommen. Ihr Inhalt wurde maßgeblich von dem Völkerrechtler Raphael Lemkin formuliert. Er hatte sich vor dem Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten intensiv auch mit den Massakern an den Armeniern beschäftigt.
Wer bestimmt, ob ein Verbrechen Völkermord ist oder nicht?
„Innerhalb der Vereinten Nationen gibt es kein Organ, das dies bestimmen kann“, erklärt Hofmann. Dafür sind die nationalen Gerichte oder der internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. Oder extra eingerichtete Sondertribunale wie in den Fällen von Ruanda und Jugoslawien. Im sogenannten Römischen Statut, das die rechtliche Grundlage für diese Gerichte darstellt, ist der Straftatbestand Völkermord, wie er in der Konvention von 1948 definiert ist, aufgenommen worden. Das Statut trat am 1. Juli 2002 in Kraft. „Das Schwierige für die Gerichte ist, dass sie den Vorsatz aus der UN-Definition nachweisen müssen“, so Hofmann.
Welche Folgen hätte es, wenn die Türkei das Massaker als „Völkermord“ anerkennt?
Die Anerkennung des Massakers als Völkermord hätte keine direkten rechtlichen Folgen, sagt Rainer Hofmann. „Eine Klage beispielsweise vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um Schadenersatz wäre gar nicht zulässig, weil es lange vor der Gründung des Gerichtshofs passiert ist.“ Auch türkische Gerichte würden Klagen auf Schadenersatz mit großer Wahrscheinlichkeit abweisen mit dem Verweis auf Verjährung. Ein internationales Gericht, das dafür zuständig wäre, gibt es nicht. Mit einem Eingeständnis könnte höchstens politischer Druck auf die Türkei ausgeübt werden.
Welche Folgen hat die am Mittwoch verabschiedete Resolution des Europäischen Parlaments?
In der Resolution, die das Europäische Parlament am Mittwochabend verabschieden wollte, wird dazu aufgerufen, sich „dem Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern“ anzuschließen. Ein rein symbolischer Akt. Erdogans Reaktion: Die Resolution des EU-Parlaments zum „Genozid“ an den Armeniern sei irrelevant. Die Entscheidung des EU-Parlaments werde „zum einem Ohr rein- und zum anderen rausgehen“. Am vergangenen Sonntag hatte bereits Papst Franziskus die Gräueltaten als „ersten Völkermord im 20. Jahrhundert“ eingeordnet und damit einen diplomatischen Eklat zwischen dem Vatikan und der Türkei ausgelöst. Erdogan hatte den Papst am Dienstag davor gewarnt, einen solchen „Unsinn“ zu wiederholen.