Von A bis Z leiten Buchstaben durch die Welt der Brüder Grimm. Foto: Erne

Die Brüder Grimm haben die meiste Zeit ihres Lebens in Kassel verbracht. Dort wurde nun die Grimmwelt eröffnet - ein literarisches Erlebnismuseum, das Spaß macht.

Das Panorama hätte Wilhelm und Jacob gefallen. Wer die breiten Stufen zum Dach ihres neuen Hauses an der südlichen Kante des Weinbergs erklimmt, hat einen bevorzugten Ausblick auf die Karlsaue und die bewaldeten Hügel der Söhre. Ob sich die Brüder an den Flutlichtmasten des Stadions, an Windradflügeln, vierspurigen Straßen und gesichtslosen Mietshäusern gestört hätten, wer weiß? Sie kannten noch das Kassel mit „C“, das prachtvolle Plätze, herrschaftliche Parks und Paläste, mittelalterliche Fachwerkhäuser und fürstliche Kunstsammlungen zum „Klein- Paris“ machten. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben, auch nicht von den Wohn- und Wirkungsstätten der Grimms. Wer in die Documenta-Stadt reiste, um den Märchen seiner Kindheit und den berühmten Brüdern nahe zu sein, der fand bis vor kurzem wenig Lebendiges und Anschauliches. Für Literaturwissenschaftler und Bücherwürmer waren die kostbaren Originalausgaben, die opulente Bibliothek und die unzähligen Briefe im bisherigen Brüder-Grimm-Museum eine Fundgrube, aber alle anderen taten sich mit der staubtrockenen Darstellung schwer. Seit drei Monaten nun können die Besucher in eine multimediale Erlebniswelt der Sprache und der Grimm’schen Märchen eintreten, die sich in einem modernen Natursteingebäude auftut.

Ein Einblick in die Grimmwelt

Und die Besucher kommen: Schüler, Studenten, Familien, Senioren und Touristen schauen neugierig bei den Grimms vorbei und finden auf vier Halbetagen vor allem eines: Informationen, die Spaß machen und die an den ungewöhnlichsten Stellen des luftig-leichten Hauses zu finden sind. Etwa auf den Treppen. Wer nach oben schreitet, liest sich von Stufe zu Stufe in verwandte Wortformen ein und hört ein Raunen und Rufen: „trappe“, „treppe“, „trappe“, „troppe“, „drap“ - und schon ist man mittendrin in der Grimm’schen Sprachwelt, die auch dem Klang der Wörter viel Bedeutung beimaß. Die hohen Wände des Treppenhauses dienen als Projektionsfläche für Stichworte aus einem weiteren großen Werk der Brüder, dem „Deutschen Wörterbuch“, das gleichzeitig als Leitfaden durch die Ausstellung führt. Entlang der 26 Buchstaben des Alphabets geht es, bei „Z wie Zettel“ beginnend, hinein in ein Kabinett aus Buchseiten. Dort wird die wissenschaftliche Arbeit Jacobs und Wilhelms vorgestellt, die eben nicht nur aus dem Sammeln und Bearbeiten von Märchen bestand. Besonders eindrucksvoll belegt das eine riesige Collage aus aufgespießten Papierstreifen, auf denen die Brüder und ihre zahlreichen Mitarbeiter von 1838 an Worte und deren Quellen schrieben, die in das Wörterbuch aufgenommen werden sollten.

Etwa 600 000 solcher Belegzettel hatten die Grimms schließlich zu sichten und zu sortieren. Damit wollten sie den Reichtum und die Schönheit der deutschen Sprache darstellen - ein gigantisches Projekt, für das die Grimms ursprünglich eine Dekade veranschlagten, das aber rund 120 Jahre benötigte. Wilhelm verstarb bei der Arbeit am Buchstaben D, Jacob vier Jahre später bei „F wie Froteufel“. In 14 Szenen zeigt der Künstler Alexej Tchernyi als filigrane Papier-Dioramen die wichtigsten Stationen der Wörterbuch-Entstehung und ein bewegtes Kapitel deutscher Geschichte. Von der Entlassung und Verbannung der Professoren Grimm aus Göttingen bis zum Erscheinen des 32. und letzten Bandes als deutsch-deutsches Projekt im Jahre 1961. Neben Zetteln aus Papier und Scheren zum Ausschneiden gehörte auch die Tinte zu den wichtigen Arbeitsmitteln der Geisteswissenschaftler im 19. Jahrhundert. Ein überdimensioniertes Tintenfass mit mehr als 200 Litern echter Tinte versinnbildlicht die Produktivität der Grimms, die mit ihren unzähligen Briefen außerdem Heerscharen von Kutschern als Postboten beschäftigten.

Die Grimm'sche Wortsammlung

Anschaulich gemacht werden der Fleiß und die Leidenschaft der Brüder unter anderem durch Hörstationen mit Auszügen aus den Briefen, Porträts der wichtigsten Korrespondenzpartner und eine elektronische Karte mit dem Briefnetzwerk der Grimms, das von Kassel, Göttingen und Berlin aus bis nach Kopenhagen, Tilsit, Moskau, Boston, Istanbul und Odessa reichte. Als Untermalung der Sprachforschung zieht eine Schimpfwortkanonade durch den Raum. Vor einem schwarzen Riesentrichter beim Buchstaben „Ä“ wie „Ärschlein“ beginnt ein derbes Wortspiel: „Schenken Sie uns ein „anstösziges Wort von heute“, lautet die Aufforderung an die Besucher, ihre Flüche und Schimpfwörter in den Schlund zu rufen. Dafür kommen Kraftworte aus der Grimm’schen Sammlung heraus: Für „Vollpfosten“ schallt der Trichter „Goggelgöffelmaul“ zurück, auf „Stinkstiefel“ folgt „Hosenlump“ oder „Donnerkröte, Pissblume, Hudelsack, Dummschnute, Ackerknabe ...“. Treppab tauchen Erwachsene und Kinder dann ein in sechs märchenhafte Inszenierungen, die zunächst durch einen Zauberwald mit einer dichten Dornenhecke führen. Die Wanderer werden mit Gewisper und Geraune aus glupschäugigen Lautsprechern vom rechten Weg abgebracht: „Hallo du, ja, du da, pst, komm mal her ...!“

Wer sich bis vor das „Spieglein, Spieglein an der Wand“ verirrt, der wird Teil eines munteren Gerangels um die „Schönsten im ganzen Land.“ Und beim Stichwort „Erzählenhören“ gerät Rumpelstilzchen zu einem Beispiel allerschönster Sprechkunst. In der Videoinstallation von Hannah Prinzler tragen Laien und Schauspieler unterschiedlichen Alters das Märchen in 23 Sprachen und fünf Dialekten wie Bayerisch, Arabisch, Plattdeutsch, Englisch oder Japanisch vor. Der letzte Teil der Ausstellung ist dem Leben der Familie Grimm gewidmet. „Lebensläufer“ enthält Porträts und Briefe der Grimms, beim „Jawort“ spielen Puppen eine Parodie auf die Gebrüder, die von Zeitgenossen als weltferne Bücherwürmer veralbert wurden. Die „Quitte“ erzählt von Armut und Hungersnot, aber auch von den Rezeptbüchern der Dorothea Grimm, die viel Aufschluss über das Essen zwischen großbürgerlichen Speisen und Resteverwertung geben. Und wer nach „U wie Unding“ noch einen Beitrag zur „Rettung der Einbildungskraft“ gebrauchen kann, der nimmt auf einer langen, schwarzen Bank Platz und hört sich einfach nur Märchen an, aus „einer Zeit, als Wünschen noch geholfen hat“.

Infos zu Kassel

Kassel

Anreise

Kassel ist von Stuttgart mit dem ICE direkt in ca. dreieinhalb Stunden erreichbar: www.bahn.de
Vom Hauptbahnhof weiter mit Regiotram oder Tram bis Rathaus oder Rathaus/Fünffensterstraße. Die Grimmwelt liegt in einer denkmalgeschützten Parkanlage. Der Fußweg von der Innenstadt (ab Rathaus ca. sieben Minuten) ist ausgeschildert.

Grimmwelt

Die Grimmwelt liegt in der Weinbergstraße 21, 34117 Kassel, Tel. 05 61 / 5 98 61 90.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Freitag von 10 bis 20 Uhr, Montag geschlossen. Das gesamte Gebäude ist barrierefrei. Eintritt: 8 Euro, Familienkarte 20 Euro. Jeden Samstag um 15 Uhr öffentliche Rundgänge. Auch Veranstaltungen wie „Grimm on the rocks“ (Führung mit Cocktail) oder „Kaffee bei Grimms“ (Führung mit Kaffee und Kuchen) werden angeboten. Statt eines Audio-Guides gibt es eine App in neun Sprachen, Gebärdensprache und „leichter Sprache“. Noch bis 20. März 2016 findet auf Ebene 1 die Sonderausstellung „Im Dickicht der Haare“ statt.
Weitere Infos unter: www.grimmwelt.de

Literatur

Sehr empfehlenswert ist das Begleitbuch „Die Grimmwelt. Von Ärschlein bis Zettel“ aus dem Sieveking Verlag, 29,90 Euro.

Allgemeine Informationen

Zu Reisen und Unterkünften in Kassel und Nordhessen unter www.kassel-marketing.de , Tel. 05 61 / 70 77 07.