Zeit zu feiern: Die Leverkusener Profis zelebrieren ihren ersten deutschen Meistertitel. Foto: AFP/Ina Fassbender

Die Bayer-Werkself hat ihr Meisterprojekt vollendet und sich damit vom Image des ewigen Zweiten befreit – und die Welt feiert mit. Nur der FC Bayern München dürfte schwer zu knabbern haben.

Der Fußball hat eine Epoche erreicht, in der zwar immer neue Rekorde aufgestellt werden, aber eine besonders faszinierende Kraft des Spiels ist während des vergangenen Jahrzehnts etwas verloren gegangen. Der Zauber des Neuen und Unbekannten, der am Sonntag zunächst die Stadt Leverkusen und anschließend weite Teile der Fußballnation erfasste.

Statt zum zwölften Mal routinierte, ja sogar etwas gelangweilte Männer wie Thomas Müller, Manuel Neuer oder Leon Goretzka bei ihrem bayrisch eingefärbten Meisterritual zu betrachten, blieben selbst eingefleischte Werksclub-Skeptiker am Sonntag nach dem 5:0 von Bayer Leverkusen gegen Werder Bremen kaum unberührt angesichts der Freude, die hervorbrach. „Emotionen pur“, sagte Jonas Hofmann, „da fließt alles durch den Körper. Soll man lachen? Soll man weinen?“. Oder einfach beides?

Erfüllt von emotionaler Energie

Es wurde sehr viel geweint und wahrscheinlich noch mehr gelacht an diesem Abend, der nicht nur einen neuen deutschen Meister, sondern auch sehr viele Helden hervorbrachte, die zum ersten Mal so einen Triumph erlebten. Selbst ein Routinier wie Granit Xhaka gewann erstmals einen Titel außerhalb der Schweiz. Neu war das Erlebnis auch für den dreifachen Torschützen und designierten Weltstar Florian Wirtz, für den in langen Phasen seiner Karriere unterschätzten Robert Andrich, für ewige Vizekusen-Gesichter wie Jonathan Tah oder Lukas Hardecky und für zig Tausend Menschen in den Straßen und im Stadion. Alle waren erfüllt von einer emotionalen Energie, die der FC Bayern schon lange nicht mehr erzeugen kann.

Vielleicht hatte Andrich ähnliche Gedanken, als er nach dem vollendeten Titelgewinn sagte: „Es gibt nicht nur Bayern München, es gibt auch Bayer Leverkusen. Jetzt ist Bayer-Leverkusen-Zeit, jetzt gibt es endlich mal einen guten deutschen Meister.“

Selbst Trainer Xabi Alonso, der als Spieler alle großen Titel gewonnen hat, berichtete von einer Reise durch unbekanntes Terrain während der Saison. Es sei „etwas total anderes, einen Titel als Coach zu gewinnen“, sagte er. „Die Energie, die man braucht, ist vollkommen anders. Man kann das nicht vergleichen. Dieses Jahr war viel intensiver.“

Ein „König“ voller Demut und Dankbarkeit

Die spanische Zeitung „Marca“ erklärte Alonso kurzerhand zum „König von Deutschland“, weil es ihm gelungen sei, „die Tyrannei der Bayern zu beenden“, und als der Baske am Sonntagabend selber über den Titel sprach, wirkte er wie ein sehr weiser König. Fröhlich ertrug er eine Bierdusche seiner Spieler während der Pressekonferenz, um dann zwar völlig durchnässt, aber weiterhin sehr aufmerksam und geduldig Journalistenfragen zu beantworten. Alonso ist ein König, der selbst in diesem großen Augenblick Demut und Dankbarkeit ausstrahlte. Vielleicht liegt das ganz große Geheimnis hinter diesem besonderen Erfolg tatsächlich im Wesen des Trainers, der sich nicht nur deshalb als Teil des Teams begreift, weil er beinahe noch genauso gut kicken kann wie die Spieler.

Spezielle Verbindung zur Mannschaft

Obwohl bereits in der Wochenmitte ein bedeutsames Spiel bei West Ham United samt Reise nach London ansteht, durfte die Mannschaft bis tief in die Nacht feiern und bekam am Montag frei. Alonso vertraut seinen Spielern und berichtete von seiner speziellen Verbindung zu den Profis. „Ich will immer in der Nähe der Mannschaft sein“, erzählte er. „Ich will viel mit der Mannschaft sprechen, ich weiß, was die Spieler fühlen. Und diese Verbindung und die Empathie zu spüren, das ist wichtig.“ Im Verlauf des Abends zeigte sich sogar Werner Wenning, die graue Eminenz des Clubs, der sich sonst immer fern hält aus der Öffentlichkeit. Der langjährige Vorstandsvorsitzende der Bayer AG, der jetzt dem einflussreichen Gesellschafterausschuss des konzerneigenen Fußballunternehmens vorsitzt, sagte im Bauch des Stadions: „Wir sind vor allem mit einer inneren Haltung vorangegangen.“

Selbst Traditionalisten, die womöglich kritisch anmerken, dass mit Bayer Leverkusen ein Verein diesen Titel gewonnen hat, der aufgrund seiner engen Verbindung zum Bayer-Konzern ein paar Vorteile hat, müssen anerkennen, dass in diesem Club zuletzt schlicht und einfach fabelhaft gearbeitet worden ist.

Meisterleistung auf allen Ebenen

„Der Schlüssel waren die Spieler“, sagte Alonso – Spieler, die sich auch Borussia Dortmund, RB Leipzig und vielleicht sogar Eintracht Frankfurt hätten leisten können. Es handelt sich bei diesem Meistertitel also nicht um einen Sieg des Kommerzes über den moralisch überlegenen Rest, sondern um eine Meisterleistung der Facharbeit auf allen relevanten Ebenen.

Alonso hatte sogar die Größe, ein Stück dieses Erfolges an seine unglücklichen Vorgänger abzugeben, in deren Zeit der nun überwundene Vizekusen-Mythos entstand und gefestigt wurde. Der Titel sei „die Konsequenz einer Toparbeit über viele Jahre“, sagte er. „Ich erinnere an Kollegen aus der Vergangenheit: Christoph Daum, Klaus Toppmöller, Roger Schmidt und viele mehr. Ich will das teilen mit vielen Leuten.“ Und zumindest solange Leute wie Xhaka und der wie entfesselt spielende Wirtz im Club bleiben, muss der FC Bayern fürchten, einem Konkurrenten gegenüber zu stehen, der tatsächlich besser ist.