Martin Hauser untersucht im Nordschwarzwald das Leben der zurückgekehrten Raubtiere Luchs und Wolf – wenn es sein muss, rund um die Uhr.
Rastatt - Er hat das stille Rombachtal hinter sich gelassen und fährt nun auf geschotterten Wegen Richtung Murgtal. Still ist es an diesem sonnigen Septembermorgen im ehemaligen Forstrevier von Martin Hauser. Auf dem Dach seines Offroaders ragt eine lange Antenne empor. Im Auto knarzt ein Empfangsgerät, das weder Hauser noch seine Jagdhündin Carla aus der Ruhe bringt. „Ein Elektrozaun, der das Signal stört“, meint der 60-jährige Wildtierbeauftragte des Landkreises Rastatt, als neben der Straße eine Weide auftaucht. Weiter unten grast eine kleine Herde stattlicher Rinder.
„Da war’s!“, sagt Hauser. Seine Stimme, einen Tick lauter als sonst, verrät seine Anspannung. „Kurz hat man es gehört.“ Tatsächlich wiederholt sich, erst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher, zwischen dem Rauschen ein kratzender Piepton. „Das ist Toni!“ Hauser, der für das staatliche Luchs-Monitoring im ganzen Nordschwarzwald zuständig ist, freut sich sichtlich, dass der Kontakt via Funk geglückt ist. Toni, der Luchs, der seit mehr als einem Jahr durch die Wälder streift, trägt seit April einen Sender um den Hals. So kann die Großkatze geortet werden.
Mit der Autoantenne funktioniert das freilich nur grob: Noch könnte der Luchs bis zu zehn Kilometer entfernt sein. Kommt man ihm näher, wird das Signal klarer. Nach weiteren zehn Minuten, in denen der fast 1000 Meter hoch liegende Nadelwald immer dichter zu werden scheint, steigt Hauser an einem Abhang aus dem Fahrzeug. „Um ihn genauer auszumachen, brauchen wir jetzt die Richtantenne.“ Mit dem Apparat in der Hand, weit über den Kopf gehalten, geht Hauser ein paar Schritte vorwärts, rückwärts, dreht sich. Es scheint, als käme das Signal vom Hang gegenüber. „Er ist jedenfalls nicht bei seiner Beute“, meint Hauser. Und das ist gut so.
Aufklärung gehört zu seinen Hauptaufgaben
Der Nachtjäger sollte nicht in seinem Tageslager gestört werden. Toni hat mutmaßlich ein oder zwei Tage zuvor ein Hirschkalb erbeutet. „Es wäre überhaupt sein erstes Rotwild“, sagt Hauser, der 30 Jahre lang Förster hier am Hochmoorgebiet Kaltenbronn war und jetzt hauptberuflich Luchs, Wolf und Auerwild auf der Spur ist. Rund um die Uhr, wenn es sein muss.
Neben dem Monitoring gehört die Aufklärung zu seinen Hauptaufgaben. Seit einiger Zeit streifen der Wolfsrüde GW852m (GW steht für Grauwolf, m für männlich, 852 ist eine Codenummer des Labors, das die Genetik des Tiers untersucht) sowie der Luchs B3001 (B heißt, das Tier wurde schon beidseitig fotografiert, 3000 ist die Kennzahl für Baden-Württemberg) durch die Wälder des Nordschwarzwalds. Das gefällt nicht jedem und bedeutet Konfliktpotenzial.
Ob und wo der Luchs Beute gemacht hat, kann Martin Hauser an den Signalen erahnen. Der Sender an Tonis Hals funkt zweimal am Tag – um 22 und 23 Uhr – ein GPS-Signal, mit dem das Tier relativ genau ermittelt werden kann. Verändert sich bei der nachtaktiven Großkatze über zwei bis drei Tage der nächtliche Standort nicht oder nur wenig, ist zu vermuten, dass sie kürzlich Beute gemacht hat und sich den Bauch vollschlägt. Das Auffinden des Kadavers übernimmt dann die Hündin Carla.
Wer hat das Hirschkalb gerissen?
Eigentlich stehen Reh und Gämse ganz oben auf dem Speiseplan der wenigen Luchse im Land. Doch vielleicht hatte Toni jetzt Appetit auf Rotwild. Dass Martin Hauser an diesem Tag weiß, wo der Luchs zugeschlagen haben könnte, ist dem Hinweis eines Jägers zu verdanken. Er informierte ihn über einen Riss auf einer Waldlichtung an einem Steilhang oberhalb des Murgtals.
Als Martin Hauser am Vortag das gerissene Wild untersuchte, war schnell klar: Da war kein Fuchs dran. Ein Fuchs hätte rasch versucht, an die Innereien des Tieres zu kommen. Sie sind aber unversehrt. GW852m scheidet ebenfalls als Verursacher aus: Ein Wolf hätte beim Fressen die Knochen des Hirschkalbs mitzerbissen. Außerdem spricht das steile Gelände gegen Canis lupus. Um seinen Verdacht, dass hier Toni Beute gemacht hat, beweiskräftig zu untermauern, installierte Martin Hauser eine Wildkamera neben dem toten Hirschkalb.
Als er das hohe Gras der Lichtung erreicht und Carla, ein Deutscher Wachtelhund, die Nase in die Spur drückt, weist Hauser auf eine kreisrunde Fläche niedergedrückten Grases. „Das ist der Kampfplatz.“ Wobei das eigentlich der falsche Ausdruck sei. Hätte es einen wirklichen Kampf gegeben, wie bei einem Angriff durch einen wildernden Hund, würden viel mehr Fellhaare herumliegen. „Der Lauerjäger Luchs tötet mit einem einzigen Biss in die Kehle“, sagt Hauser.
Der endgültige Beweis
Wenn es Toni war, dann war er heute schon da. Der Kadaver liegt nicht mehr an der Stelle von gestern. Bis zum nahen Waldrand führt eine Schleifspur. Offenbar bevorzugt der Luchs beim Fressen ein ruhigeres Eck als die offenen Lichtung. Und da ist auch die Beute! Hauser nimmt Carla an die ganz kurze Leine.
Das Hirschkalb ist von den Hinterläufen bis hoch übers Hinterteil angefressen, die Knochen sind fast unversehrt, genauso wie der Verdauungstrakt. Hauser deutet auf dunkle Punkte an der Kehle: „die Bisswunde“. Es sei ein vergleichsweise schwaches Kalb gewesen, sagt Hauser.
Ob Toni hier am Werk war, müssen jetzt die Bilder der Kamera zeigen: Selbst bei einem alten Hasen wie Martin Hauser steigt in solchen Momenten der Puls. Als er auf seinem Laptop die Speicherkarte der Kamera ausliest, hat er den endgültigen Beweis: Da ist Toni zu sehen, wie er sich an der Beute zu schaffen macht. „Ein Gänsehautfeeling.“
Die Bedenken der Nutztierhalter
Martin Hauser hat zu „seinem“ Luchs fast schon eine persönliche Beziehung aufgebaut. Eine Beziehung, die über die Faszination für ein Wildtier hinausgeht. Was er besonders bemerkenswert findet: Als ob Toni ahnte, dass es beim Fressen Zuschauer gibt, zeigt die Bilderfolge, wie er seine Beute erst mal aus dem Sichtfeld der Kamera zieht. „Das ist schon zum zweiten Mal so“, meint Hauser.
Dass Landwirtschaftsminister Hauk es kürzlich, auch mit dem Hinweis auf mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung, ablehnte, in absehbarer Zeit Luchsweibchen auszusetzen, um eine Population aufzubauen, kann Hauser kaum nachvollziehen: „Viele Leute sind sogar stolz, dass der Luchs wieder zurückkommt.“
Freilich, die Bedenken der Nutztierhalter müssten sehr ernst genommen werden. Hauser sagt aber auch: „Wir haben den Umgang mit Wildtieren verlernt.“ Soll heißen: Was man verlernt hat, das kann man sich auch wieder aneignen. Als Beispiel nennt er die Rindviehhaltung im Freiland: „Über Jahrzehnte hat man Rindern die Hörner weggezüchtet, weil sie in der Stallhaltung störten. Man weiß aber, dass Kühe mit Hörnern etwas aggressiver sind. Bei einer Begegnung mit dem Wolf ist das ein notwendiges Verhalten.“
Die Angst vor dem Wolf
Ohne gezielte Aussetzung von Luchskatzen, sagt Hauser, könnten sich Toni und die anderen Kuder (männliche Luchse) im Land nicht vermehren. Anders als Luchsmännchen wandern Luchsweibchen nicht weit. „Und ohne eine Artgenossin in der Umgebung wird Toni früher oder später wieder verschwinden.“ Eine Vorstellung, die Hauser schon so manche schlaflose Nacht bereitet hat.
Er ist überzeugt: Die Angst vor Meister Isegrim, dem Wolf, ist vor allem auf Mythen und Märchen zurückzuführen. Deshalb sei es auch kein Zufall, dass der Luchs viel populärer ist. Über ihn existieren keine Schauergeschichten, die von Generation zu Generation weitergetragen worden sind. „Wobei der Mensch weder in das Beuteschema des einen noch des anderen passt.“
Der Wolf sei sichtbarer als der Luchs. Er meide zwar den Menschen, kreuze aber immer wieder seine Wege: Auch um Hausers Forsthaus am Rand von Enzklösterle schlich er bereits herum: „Im Winter 2018 fanden wir im Schnee Wolfsspuren direkt hinter dem Gartenzaun.“ Weil der Wolf am liebsten energiesparend im flachen Gelände unterwegs ist, treffe man ihn – ganz anders als den Luchs, der felsiges Gelände bevorzugt und immer im Verborgenen lebt – häufiger auch auf von Menschen gemachten Wegen an.
Nach einer letzten Untersuchung lässt Martin Hauser den Hirschkalbkadaver, wo er ist. Vielleicht kehrt Toni, der Kuder, in der kommenden Nacht ja zurück zu seinem Riss. Auf dem Rückweg durch den Wald will Hauser noch ein paar aufgestellte Kameras überprüfen. Man weiß ja nie: „Vielleicht haben wir heute noch einmal so ein Glück und die Bilder zeigen uns auch GW852m.“