Mit diesem Plakat sucht das BKa nach Anis Amri Foto: dpa

Sollte Anis Amri der Berliner Täter sein, müssen sich die Behörden kritischen Fragen stellen. Der 24-jährige Tunesier war im Juli bereits in Ravensburg in Abschiebehaft.

Berlin - Offiziell passiert so gut wie gar nichts an dem Tag, der eine brisante Wendung in die Ermittlungen zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz bringt. 24 Stunden zuvor hat es gleich zwei Pressekonferenzen gegeben, in denen erst die Berliner Polizei und dann der Generalbundesanwalt mitteilten, dass sie kaum etwas wissen, weil sich ein zuerst festgenommener Mann aus Pakistan als falsche Fährte herausgestellt hat. An diesem Mittwoch jedoch, als eine europaweite Fahndung nach dem Tunesier Anis Amri anläuft, schweigen die Sicherheitsbehörden. „Aus Rücksicht auf laufende Maßnahmen haben wir aktuell keine Pressekonferenz geplant“, teilt ein Sprecher des Generalbundesanwalts in Karlsruhe mit.

Es dauert bis zum Nachmittag, bis es eine Bestätigung gibt für das, was bis dato aus verschiedenen Quellen im Sicherheitsapparat getröpfelt ist. „Es gibt einen neuen Verdächtigen – nach ihm wird gefahndet“, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière, nachdem er in einer geheimen Besprechung den Innenausschuss des Bundestages informiert hat. Die Generalbundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt gaben ebenso Auskunft. Am Abend entschließt sich das BKA, den 24-Jährigen öffentlich zur Fahndung auszuschreiben. 1,78 Meter groß ist er und wiegt etwa 75 Kilogramm. „Vorsicht“, mahnt das virtuelle Plakat im Internet: „Er könnte gewalttätig und bewaffnet sein!“

Anis Amri wurde als einer von insgesamt 549 Gefährder eingestuft

Aus dem, was Sitzungsteilnehmer im Anschluss berichten, zeichnet sich ein erstes Bild des Mannes, der laut de Maizière „ein Verdächtiger, aber nicht zwingend der Täter“ ist. Der am meisten beunruhigende Fakt ist sicher der, dass die Sicherheitsbehörden ihn gut kennen und im Januar als einen der insgesamt 549 islamistischen Gefährder eingestuft haben – im Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern in Berlin einigte man sich darauf, welche seiner sechs bekannten Identitäten als Hauptpersonalie geführt werden soll: Anis Amri.

2011 kam der Tunesier als Bootsflüchtling nach Italien und wurde in einem Auffanglager für Minderjährige auf Sizilien untergebracht. Dort habe er Sachbeschädigungen und „diverse Straftaten“ begangen. Laut der Zeitung „La Stampa“ soll er sogar das Auffanglager angezündet haben. Als Volljähriger wurde er festgenommen, kam vor Gericht und wurde zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe im Gefängnis Ucciardone in der sizilianischen Hauptstadt Palermo sei er im Frühjahr 2015 des Landes verwiesen worden. Dabei habe es jedoch Probleme mit den tunesischen Behörden gegeben, berichtete die Nachrichtenagentur Ansa.

So gelangte Anis Amri nach Deutschland, wie der CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer im Berliner Paul-Löbe-Haus erzählt. Der Tatverdächtige mit besten Kontakten in die islamistisch-salafistische Szene habe gelegentlich in Berlin, vor allem jedoch in Nordrhein-Westfalen gelebt. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich NRW-Innenminister Ralf Jäger am Nachmittag vor die Mikrofone stellt. Demzufolge hatte Amri „ab Februar 2016 seinen Lebensmittelpunkt in Berlin“ und sei nur noch „kurz in Nordrhein-Westfalen“ gesichtet worden. Das Düsseldorfer Landeskriminalamt habe „beim Generalbundesanwalt ein Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat“ initiiert. Später bestätigt der Generalstaatsanwalt in Berlin, dass die Behörden auf den NRW-Antrag hin Amri von März bis September abgehört und observiert hätten. Weil nur Hinweise auf Kleindealerei um den Görlitzer Park und keine staatsschutzrelevanten Erkenntnisse gewonnen worden seien, sei die Observierung eingestellt worden. Jäger berichtet, dass in der Fahrerkabine des Sattelschleppers am Breitscheidplatz der Duldungsausweis von Amri gefunden wurde – in einer Geldbörse.

Der Duldungsausweis lag in der Fahrerkabine des Sattelschleppers

Anis Amri reiste im Juli 2015 über Freiburg in die Bundesrepublik ein. Das Dokument des abgelehnten Asylbewerbers Anis Amri besagt, dass er ausreisepflichtig war. Das Nürnberger Bundesamt für Migration beschleunigte sein Asylverfahren, weil er als Gefährder bekannt war, und beschied es im Juli dieses Jahres negativ. Die Ausländerbehörde in Kleve nahe der deutsch-niederländischen Grenze konnte ihn nicht abschieben, weil er keine gültigen Ausweispapiere vorlegte und die Behörden in Tunesien zunächst bestritten, dass Anis Amri Tunesier ist. Das in solchen Fällen übliche Passersatzverfahren wurde demnach im August eingeleitet, die Post aus Tunis ist jedoch erst an diesem Mittwoch eingetroffen – ein Umstand, den Jäger nicht weiter kommentieren will.

In Abschiebehaft ist Anis Amri dennoch gekommen – in Baden-Württemberg, weil er im Juli 2015 über Freiburg eingereist war. Seine erste Station in Deutschland hätte daher auch seine letzte sein können. Die Stuttgarter Landesregierung bestätigte, dass der mutmaßliche Attentäter am 30. Juli 2016 beim Versuch einer Ausreise ohne gültige Papiere von der Polizei aufgegriffen wurde. Bundestagsabgeordnete haben die Ermittler des BKA und des Generalbundesanwalts mit den entsprechenden Medienberichten konfrontiert und kein Dementi gehört. Die Festnahme soll in Friedrichshafen erfolgt sein, Haftort ist demnach Ravensburg gewesen. Doch die bürokratischen Erfordernisse für eine Abschiebung konnten eben nicht beigebracht werden.

Einige neue Details zur Schreckensfahrt sind bekannt geworden

So hat Anis Amri – wenn er es denn gewesen ist – zur Tat schreiten können. Einige zusätzliche Details zur Schreckensfahrt vom Montagabend sind an diesem Mittwoch im Bundestag ebenfalls bekannt geworden. So hat der Täter etwa genau gewusst, dass in einem Industriegebiet im Süden Berlins regelmäßig Lastwagen Rast machen, ehe sie am nächsten Tag weiterfahren oder ihre Ware – in diesem Falle Stahlprodukte – in der Stadt ausliefern. Und aus den GPS-Daten des Lasters haben die Ermittler gelernt, dass der Täter den Breitscheidplatz erst einmal umrundet hat, bevor er um 20.02 Uhr in die weihnachtlich gestimmte Menge gerauscht ist. Vermutlich ist der Lastwagenfahrer erst nach dem Anschlag im Führerhaus getötet worden. Zuvor hat es wohl einen Kampf gegeben.