Der Stuttgarter Massimiliano Pironti malt so eindrucksvolle Porträts, dass das Gemälde seiner Großmutter in der National Portrait Gallery in London ausgestellt wurde. Dann wurde Prinz Charles auf ihn aufmerksam. Die unglaubliche Geschichte eines autodidaktischen Quereinsteigers.
Stuttgart - Die Hand umgreift sanft den Jackettärmel am linken Unterarm, als würde sie eine Wunde verdecken. Die rechte Hand berührt jene Stelle, wo die Häftlingsnummer in Auschwitz eintätowiert wurde. Was für ein eindrückliches Bild eines heute zufriedenen 93-jährigen Mannes. Es wirkt distanziert, aber doch nah. Arek Hersh ist Holocaust-Überlebender. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet, er erhoffte sich in England eine Zukunft. Er war eines der „Kinder von Windermere“, eines der jüdischen Waisenkinder, das im britischen Windermere am Lake District von einer Zukunft träumte. Neben dem alten Mann lehnt ein kleines schwarz-weiß Bild des jungen Arek Hersh, die erste Fotografie, die ihm nach seiner Ankunft in England zeigt. Gemalt hat dieses eindrucksvolle Werk Massimiliano Pironti, 40 Jahre alt, geboren in der Nähe von Rom, seit zwei Jahren lebt er im Stuttgarter Westen. Im stilvollen, frisch renovierten Altbau, mit römischem Stuck an der Decke, wird der Jubiläums-Tee der Queen in royalen Tassen serviert. Vergangene Woche kam ein Dankesschreiben von Prince Charles mit einem kleinen Silber-Döschen, verziert mit einem Landschaftsbild gemalt vom ältesten Sohn der Königin.
Post von Prinz Charles in den Stuttgarter Westen
Massimiliano Pironti freut sich über die Post aus dem britischen Königshaus. Vor gerade mal einem Monat war er selbst vor Ort – eingeladen in die Queen’s Gallery im Buckingham Palast, wo sein Werk als eines von sieben Porträts gezeigt wurde. Eine große Ehre.
Der Prince of Wales gab vor gut eineinhalb Jahren sieben Porträts von Shoa-Überlebenden bei verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern in Auftrag. Der einzige außerhalb Großbritanniens ist Massimiliano Pironti. Sichtlich berührt erzählt er von der Begegnung mir Arek Hersh in Leeds, sein Gemälde ist da schon zu 95 Prozent fertig gestellt. Coronabedingt konnten die ersten Sitzungen nur virtuell stattfinden, die Tochter von Arek Hersh fotografierte Details im Wohnhaus, wie etwa die Porzellanfigur des Moses, die nun im Gemälde neben ihm zu sehen ist, seine Hände, seine Körperhaltung, seine Augen, seine Haare.
Perfekt bis ins letzte Augenbrauenhaar durchdacht
Das Ergebnis aber, das so absurd fotorealistisch erscheint, ist von Pironti kunstvoll konstruiert. Perfekt bis ins letzte Augenbrauenhaar durchdacht. Perfektionist ist so ein Wort, das gerne leichtfertig verwendet wird. Massimiliano Pironti ist aber einer. Er ist geradezu besessen von Details, von kleinen Bartstoppeln, Fingernägeln, Adern.
Kunsthistoriker und Kunstsachverständiger Oliver Class verfolgt Pirontis Entwicklung seit einigen Jahren. „Er ist eine herausragende Person. Hyperrealistische Kunst hat es in Deutschland schwer, doch seine Kunst steht für sich“, sagt Oliver Class. In Großbritannien gebe es eine ganz andere Tradition der Porträtmalerei. „Pironti macht bedeutende Kunst. Ich bin gespannt, welchen Weg er weiter in Kontinentaleuropa geht.“
Musicalstar war Pironti auch schon
Pironti, der ehrgeizige 40-Jährige, hat schon zwei Karrieren hinter sich gelassen, um sich voll und ganz auf die Malerei zu konzentrieren. Er könnte heute auch Musicalstar sein oder Architekt, seine größte Leidenschaft aber ist die Malerei. „Ich habe schon als Kind Porträts gemalt“, erklärt Pironti, er war von den großen Renaissancemalern fasziniert – und zählt im schönsten italienischen Singsang auf: „Leonardo, Raffaello, Michelangelo.“
Pironti wuchs in der Nähe von Rom, in der Industriestadt Colleferro, auf. Ungefähr mit drei Jahren, in einem Alter, in dem Kinder normalerweise Kopffüßler aufs Papier bringen, begann er zu malen, mit sieben Jahren verwendete er erstmals Ölfarben. Heute sind seine Werke mit Ölfarben auf Aluminiumtafeln angefertigt. Auf einem Selbstporträt, sieht man den glänzenden Hintergrund hindurchscheinen, eine Leerstelle, sein Gesicht aber ist verdeckt.
Die Malerei ist das, was er machen möchte
„Es ist sehr schwer, sich selbst zu malen, sich zu sehen, es ist eine stete Auseinandersetzung mit einem selbst“, sagt Pironti. „Das kann auch weh tun.“ Entstanden ist das Bild zu Beginn der Coronapandemie, seine Familie in Italien weit weg, die Ungewissheit groß. Es zeigt neben der Verletzlichkeit aber ebenso die Beweglichkeit Pirontis, der auch Tänzer und Sänger war – und dabei sehr erfolgreich. Als 16-Jähriger begann er seine Ausbildung, machte bei der TV-Talentshow „Amici“ in Italien mit und wurde entdeckt. Dazwischen studierte er Architektur, bestand die Zwischenprüfung mit „summa cum laude“, brach aber ab, weil er Musicaldarsteller bei „Tarzan“ in Stuttgart und Oberhausen wurde. Auch diese Karriere ließ er nach vielen Jahren auf den Bühnen sein, um sich auf die Malerei zu konzentrieren.
Das Bild seiner Kollegin war der Startschuss für seine Karriere als Maler
Seine Musicalkollegin Bathoni Puplampu porträtierte er unter dem Titel „A throne in the West“, eine Frau mit bewegender Familiengeschichte, ein Mädchen, das in London blieb und deren Familie in Afrika zuhause ist. Jedes Porträt erzählt auch ein Teil des Malenden. Das Bild seiner Kollegin war der Startschuss für seine Karriere als Maler – und auch schon bei den britischen „BP Portrait Awards“ dabei. Es ist ein renommierter Preis. In den vergangenen 30 Jahren wurden mehr als 40 000 Arbeiten aus über 90 Ländern bei den „BP Portrait Awards“ eingereicht. Seit 1990 haben mehr 5,6 Millionen Menschen die Ausstellung in der Londoner National Portrait Gallery, beste Lage direkt ums Eck vom Trafalgar Square, gesehen.
„Meine Bilder sollen Seele haben. Ich möchte die Geschichte der Menschen erzählen, jede Falte erzählt von ihrem Leben.“
2019 war es dann, als Massimiliano Pirontis Oma hier ausgestellt wurde. Ein beeindruckendes Gemälde, wie die alte Frau mit der roten Wärmflasche in ihrer Küche sitzt. Die Engländer haben ein Faible für Porträts, wollen Menschen in den Fokus rücken. Der Preis zeigt immer wieder, dass die Kunst der Porträtmalerei kein veraltetes Genre ist. Der Titel des Gemäldes seiner Oma lautet „Quo vadis“, weil sie immer fragte, wohin sie wohl bald gehen wird. Pironti wollte seine Großmutter für sich für immer einprägen, das Bild von ihr, wie sie in der Küche sitzt. In ihren Augen sah er, dass sie wusste, dass sie bald sterben würde. „Es geht nicht um die Technik, es geht um die Gefühle“, so Pironti. „Meine Bilder sollen Seele haben. Ich möchte die Geschichte der Menschen erzählen, jede Falte erzählt von ihrem Leben.“
Im Wohnzimmer hängt ein fast faltenloses Exemplar eines Porträts, das den jungen Hölderlin zeigt
Mit dem dritten Preis bei den „BP Portrait Awards“ für „Quo vadis“ kamen die Auftragsarbeiten, aber auch der Glaube an sich selbst als Künstler. Und eben der Anruf aus dem britischen Königshaus für das Porträt von Arek Hersh. Wenn man ihn fragt, ob deutsche Galerien schon Interesse gezeigt hätten, lächelt er. Auf der Staffelei im Atelierzimmer ist ein halb fertiges Bildnis eines Mailänder Industriellen zu sehen. Über Preise aber wird gelächelt – und geschwiegen.
Im Wohnzimmer hängt ein fast faltenloses Exemplar eines Porträts, das den jungen Hölderlin zeigt. Inspiriert von Hölderlins Biografie und vom Pastellbild von Franz Carl Hiemer zog Pironti noch einen römischen Freund hinzu, der Model für ihn saß. Das Ergebnis ist ein schöner Hölderlin am Scheidepunkt in leiser Vorausahnung auf seine Zukunft. Es ist das Original, das einen kurzen Zwischenstopp im Stuttgarter Westen einlegt, bevor es wieder nach Lauffen am Neckar kommt, in das neue Hölderlinhaus, das 2020 zum 250. Geburtstag des Dichters eröffnet wurde. Dort hängt der echte Pironti eigentlich, eine originalgetreue Reproduktion befindet sich im Vatikan. Ein Geschenk an den Hölderlin-Verehrer Papst Franziskus. Das Bild seiner Oma ist derweil aus dem Museum Wittelsbacher Schloss im bayerischen Friedberg auf dem Weg zu Pironti nach Stuttgart. Vergangenes Jahr ist seine Oma mit 97 Jahren gestorben. Das Bild bleibt.