Ein Blick auf die Uhr: Ulrich Hollands Sonntag beginnt in Spielberg. Foto: Gottfried Stoppel

Viele evangelische Pfarrer müssen wie Ulrich Holland für die Seelen von mehreren Gemeinden sorgen. Eine sonntägliche Gottesdienst-Tour zwischen Spielberg und Egenhausen im Nordschwarzwald.

Calw - Es ist einer der kalten Tage dieses Sommers. Im Kaminofen im Esszimmer knistert ein Feuer. Aber für Gemütlichkeit ist keine Zeit. Ulrich Holland muss zur Arbeit. Seine gepackte Aktentasche steht im Flur. Schnell die Schuhe an. Das schwarze Jackett. Ein prüfender Blick in den Spiegel: die Krawatte – sitzt. Holland greift nach Tasche und Autoschlüssel, ein freundlicher Abschiedsgruß an seine Frau. 8.45 Uhr. Noch eine halbe Stunde.

Draußen wartet der Opel Adam auf seinen Einsatz. Holland wirft die Aktentasche auf den Beifahrersitz, fährt los. Keine 400 Meter weiter ist er am ersten Ziel des Tages: der Johanneskirche in Spielberg. Holland parkt neben den liebevoll bepflanzten Blumenkübeln, ein Farbklecks, der die kleine Kirche auch bei tristem Wetter freundlich wirken lässt. „Ich könnte auch zu Fuß gehen, aber sonntags kommt es auf jede Minute an“, sagt Holland, wirft einen Blick auf die Uhr, eilt die Stufen zur Kirche hinauf.

Holland ist evangelischer Pfarrer im Nordschwarzwald – und führt ein bewegtes Leben. Er wohnt in Spielberg, hat eine Pfarrstelle in Egenhausen und ist für zwei Gemeinden zuständig. Spielberg zählt 700 Kirchenmitglieder, Egenhausen bringt es auf 1300 Seelen. Das bedeutet für Holland an Sonntagen: Gottesdienst-Hopping.

Mal hält er in Spielberg, mal in Egenhausen die erste Predigt

Im Zwei-Wochen-Rhythmus hält er mal in Spielberg, mal in Egenhausen den ersten Gottesdienst. Dann rasch weiter in die andere Gemeinde. Hier heißt es: kurz Luft holen und die Predigt so energiegeladen halten, als wäre es die erste an diesem Morgen. Auch unter der Woche lässt Ulrich Holland viel Reifenabrieb auf der Straße, sind umtriebiges seelsorgerisches Pendeln und Kondition unerlässlich: In beiden Gemeinden wird geheiratet und gestorben, Kinder wollen getauft und Konfirmanden wollen unterrichtet werden.

Eine Pfarrstelle, mehrere Kirchengemeinden – Alltag für viele evangelische Pfarrer in Deutschland. Allein in der württembergischen Landeskirche mit ihren 1300 Kirchengemeinden gibt es 200, die keinen eigenen Pfarrer mehr haben. Das liegt an den unterschiedlichen Größen der Gemeinden und an der sinkenden Zahl der Kirchenmitglieder. Im Schnitt kommt auf 1800 Mitglieder eine Pfarrstelle.

Holland weiß, was es bedeutet, wenn eine Gemeinde so klein geworden ist, dass eine eigene Pfarrstelle zu aufwendig wird. Er kennt Kollegen, die bis zu fünf Gemeinden betreuen. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, erzählt er, gibt es Pfarrer, die sich um noch mehr Kirchengemeinden kümmern. Manche Landpfarrstellen dort sind seit Jahren ausgeschrieben, und nichts tut sich. „So schlimm ist es bei uns zum Glück noch nicht, aber auch wir haben unser Päckchen zu tragen“, sagt Holland. Er selbst hat bis vor wenigen Monaten noch drei Gemeinden betreut, seine Pfarrstelle hatte er im Kurort Bad Teinach, obendrein war er zuständig für die Orte Emberg und Schmieh – sowie für drei Seniorenheime. „Da wird jede Minute kostbar, alles muss geplant sein. Dennoch wird man nie allen gerecht“, sagt Holland. „Aber hätte ich nur eine große Gemeinde, wäre das Gefühl vermutlich das gleiche.“

Er begrüßt jeden mit Namen

Im Vorraum der Johanneskirche begrüßt er Isolde Theurer, die Mesnerin in Spielberg. Er hängt sein Jackett über eine Stuhllehne, wirft sich den Talar über. Eine zierliche Frau betritt den Raum, Gerda Steeb, Kirchengemeinderätin. Sie trägt Mundschutz, gibt Holland nicht die Hand, „damit ich mir keine Infektion einfange“. Sie hat eine neue Lunge.

9 Uhr. Ein kurzes Gebet mit der Kirchengemeinderätin für alle, die nicht zum Gottesdienst kommen können, unter anderem für einen Mann, der auf der Palliativ-Station im Sterben liegt. Dann klemmt Holland Bibel und Predigt unter den Arm, schreitet in die Kirche, vorbei an hellbraunen Holzbänken mit grünen Polstern. Ein paar Kirchgänger sind schon da. Er geht auf jeden zu, kräftiger Handschlag, begrüßt mit Namen. Es ist ihm wichtig, die Menschen zu kennen, die regelmäßig kommen.

Schriftlesung: Römer 14

Glockenläuten. Holland geht durch den Haupteingang nach draußen, wartet, begrüßt, schüttelt Hände. Ein Schwung Konfirmanden kommt, 70 Besucher sitzen nun in der Kirche. Um die Schirmständer herum bilden sich Pfützen. Draußen hat der große Regen eingesetzt.

9.15 Uhr. Holland schließt die Tür, nimmt in der ersten Reihe Platz, nicht weit von der Kanzel. Die Glocken verstummen, eine junge Frau spielt Keyboard. Ein paar Nachzügler betreten die Kirche. Der Gottesdienst beginnt. Schriftlesung, Römer 14. Die Predigt. Es geht um das Richten anderer. Die Konfirmanden kichern schüchtern, wenn Holland sie anspricht. Nach 20 Minuten dann das Vaterunser und der Segen. 10.08 Uhr. Ende des Gottesdienstes. Holland eilt zum Ausgang, wieder Händeschütteln, er verabschiedet sich von jedem, packt Bibel und Predigt in seine Aktentasche. Die nächste Gemeinde wartet.

Mit wehendem Talar eilt der 45-Jährige zum Opel Adam, steigt ein, braust los. Zwei Kilometer sind es nach Egenhausen, dort beginnt um 10.30 Uhr der nächste Gottesdienst. Immer geradeaus, einige Hundert Höhenmeter hinab, auf einer schmalen Landstraße, links und rechts Felder, so weit das Auge reicht. Vorbei an Weiden mit Kühen, einige heben den Kopf wie zum Gruß, als der Pfarrer vorbeifährt.

„Ich achte darauf, dass meine Predigt exakt 20 Minuten geht. Das sind fünf DIN-A4-Seiten vorn und hinten beschrieben. Die Menschen können heute ja nicht mehr so lange zuhören“, sagt Holland und schaltet in den fünften Gang. Zeit für ein Schwätzchen hier und dort hat er nach dem ersten Gottesdienst nicht. Wenn ihm jemand ein Problem anvertrauen will, „muss ich ihn auf später vertrösten“.

Einmal bremste ihn Blitzeis aus

Er macht aber auch Ausnahmen: Einmal zog ihn eine Frau ins Vertrauen, dass ihr Mann sich das Leben nehmen wolle. „Da kann ich nicht auf die Uhr gucken und sagen: Reden wir nachher.“ Aber auch für solche Situationen ist vorgesorgt: Wenn er es nicht pünktlich zum nächsten Gottesdienst schafft, fängt ein Mitglied des Kirchengemeinderats schon ohne ihn an. „Das ist beruhigend für mich und zeugt von einem Schatz, den wir in unseren Gemeinden haben – den Ehrenamtlichen“, sagt Holland.

Das Wetter hat ihm auch schon einen Strich durch die Zeitrechnung gemacht. Im Januar 2013 etwa, als in seiner ehemaligen Gemeinde Bad Teinach wegen Blitzeises nichts mehr ging. „Ich kam nicht mal zur Einfahrt hinaus.“ Damals stemmten seine Konfirmanden in Emberg den Gottesdienst ganz ohne ihn.

10.20 Uhr. Ulrich Holland parkt wieder vor einer Johanneskirche, diesmal in Egenhausen, eilt über den Kirchplatz, nimmt das Hauptportal, schnurstracks zwischen den Sitzbänken hindurch. Hier sind die Polster rot. Er wirkt kein bisschen gestresst. Die Aktentasche unter dem Arm schüttelt er wieder Hände, begrüßt mit Namen, nickt freundlich nach links und nach rechts. Dann geht es flink am Altar vorbei in ein Kämmerchen, wo ihn Carmen Wüthrich, Kirchenpflegerin aus Egenhausen, erwartet. Kurze Begrüßung, letzte Absprache: „Wann kommt die Schriftlesung dran?“ Während Holland antwortet, packt er die Bibel und die Predigt aus.

„Da kann man durcheinander kommen“

Die Glocken läuten. Holland wechselt in den Kirchensaal, scherzt dort mit Christel Brauckmann, der Mesnerin. Die freut sich, dass sie schon vor der Zeit die Kirche aufgeschlossen hat, um den Chor reinzulassen. „Aber dann standen plötzlich Kirchgänger vor der Tür, die dachten, es geht um 9.15 Uhr los.“ Manchmal sagt sie, könne man ja auch wirklich durcheinanderkommen.

Ein junger Mann findet das mit den unterschiedlichen Uhrzeiten ganz praktisch: „Verschläft man, kann man in die andere Gemeinde fahren und den Gottesdienst nachholen.“ Eine ältere Dame neben ihm lächelt und sagt: „Ha noi, des kannsch net macha, die Spielberger san doch so eiga.“ Genau darin liegt die Herausforderung, wird Holland später erzählen: auf andere Identitäten einzugehen und die feinen Unterschiede mit der Zeit zu erkennen.

In der großen Kirche in Egenhausen sind jetzt etwa 100 Besucher, darunter 12 Konfirmanden mit ihren Familien, sie stellen sich das erste Mal der Gemeinde vor. Auf dem Altar leuchten Pfingstrosen.

10.30 Uhr. Der Chor singt, eine junge Frau spielt Keyboard, Gesangbücher sind heute überflüssig, die Texte werden auf einer Leinwand, die über dem Kopf des Pfarrers schwebt, gezeigt. Schriftlesung: Römer 14. Dann Predigt über das Richten anderer. Ein zweites Mal an dem Morgen. Die Predigt wirkt frisch, die Gesten sind authentisch. Routine will Holland nicht aufkommen lassen. Nach 20 Minuten das Vaterunser. Der Segen. Der Chor schmettert zum Abschluss: „Ich bin bei dir.“

Wie kann er die jungen Menschen halten?

Holland schüttelt am Ausgang Hände, wünscht eine gesegnete Woche. Er plaudert mit einer Frau und deren Tochter. „Jetzt wird es entspannter“, sagt er, grinst und wird sogleich von ein paar Gemeindemitgliedern in Beschlag genommen. Holland zückt sein Handy, trägt Termine ein. Schließlich zieht er sich zurück ins Kämmerchen, legt den Talar zusammen, packt Bibel und Predigt in die Aktentasche.

Der Beruf des Pfarrers, das gibt Holland unumwunden zu, ist im Laufe der vergangenen Jahre stressiger geworden. Seine Kollegen und er, sagt er, bringen bereits an die 150 Prozent Arbeitskraft ein. Und jedes Jahr wird noch eine Schippe an Arbeit obendrauf gelegt. „Im Weglassen sind wir Pfarrer ganz schlecht. Und das Gottesdienst-Hopping trägt nicht gerade zur Entschleunigung bei.“ Es sei ein wenig vergleichbar mit der Lage von Landärzten: „Die sind ja auch für immer mehr Gemeinden zuständig“. Nur: Die Kranken werden mehr, die Gläubigen immer weniger.

Diese Erkenntnis stresst Holland mehr als das Hin und Her zwischen den Gemeinden. „Das schmerzt mich.“ Wie kann seine Kirche gerade die jungen Menschen halten und erreichen? Diese Frage treibt ihn um.

Ulrich Holland fährt zurück nach Spielberg. Seine Frau hat Geschnetzeltes gekocht. Viel Zeit hat er nicht, am frühen Nachmittag feiert die Dorfgemeinschaft ihr 20-Jahr-Jubiläum, da soll der Pfarrer ein paar wärmende Worte sagen. Er freut sich über die Einladung. Zu diesem Termin sind es nur 20 Schritte.