Die „Fall Özil“ sorgt für heftige Debatten. Die Reaktionen in Deutschland und der Türkei könnten unterschiedlicher nicht sein. Foto: dpa

Der Fall Mesut Özil wird in Deutschland als Rückschlag für die Integration gesehen. In der Türkei ist die Stimmung eine andere. Wir haben Deutsch-Türken in Stuttgart gefragt.

Stuttgart/Ankara - Zekeriya Aktas wusste sofort: das gibt Ärger! „Mein Gefühl und meine Erfahrung sagten mir, dass dieses Foto mit Blick auf die Integrationsfrage eine Debatte lostreten wird, die mehr kaputt machen wird, als sie Nutzen bringt“, sagt der Stuttgarter. Er sollte Recht behalten. Das Bild von Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verbreitete sich rasend schnell in den sozialen Medien – inklusive der Hass-Kommentare.

Kritik am Foto von Özil mit Erdogan

Auch der 36-jährige Zekeriya Aktas, der in Stuttgart geboren und aufgewachsen ist, türkische Wurzeln hat und für die CDU im Bezirksbeirat von Stuttgart-Süd sitzt, kritisiert Mesut Özil scharf für den Fototermin. Was ihn aber ärgert ist der Verlauf der Debatte. Es könne nicht sein, dass die Zugehörigkeit eines deutschen Spielers zur Nationalmannschaft „von seiner Herkunft und den Vorfahren abhängig gemacht wird“. Das setze alle Deutschen mit ausländischen Wurzeln unter Generalverdacht. Zekeriya Aktas: „Diesem ständigen Argwohn ausgesetzt zu sein ist ein Gift, das Integration sehr viel mehr verhindert als ein politisch verfehltes Fan-Foto mit einem autokratischen Staatsoberhaupt.“

Inzwischen wird der „Fall Mesut Özil“ auch wissenschaftlich analysiert. Aus Sicht von Haci-Halil Uslucan sei er ein Paradebeispiel für Integrationshürden und heimatliche Zerrissenheit der „Deutsch-Türken“. Charakteristisch sei ein sogenanntes Integrationsparadoxon, erklärt der Professor am Montag in Düsseldorf bei der Vorstellung einer neuen Studie des Zentrums für Türkeistudien. Demnach empfinden sich gerade die objektiv besser Integrierten häufig als nicht zugehörig, weil sie besonders sensibel für gesellschaftliche Diskriminierung seien.

Ein Fall für die Wissenschaft

Seit 2010 steige die Zahl der türkeistämmigen Zuwanderer, die sich eher der Türkei denn Deutschland verbunden fühlen, berichtete Uslucan. In der jüngsten repräsentativen Befragung gaben 61 Prozent an, sich sehr stark der Türkei zugehörig zu fühlen, nur 38 Prozent sagten das über Deutschland. Auch in der Nachfolgegeneration ist die Verbundenheit zur Türkei noch hoch. Uslucan führt das unter anderem auf überhitzte Türkei-Debatten in Deutschland, das Werben der türkischen Regierung sowie Diskriminierungserfahrungen von Menschen zurück, die sich häufig als „Pass-Deutsche“ abgelehnt fühlten.

Natürlich wird die Debatte auch in der Türkei heftig diskutiert. Dort wird der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und die Diskussion um den 29-jährigen als Rückschlag für die Integration von Türken in der Bundesrepublik gesehen. Özil habe mit seiner Kritik an der Haltung deutscher Politiker und Verbandsfunktionäre „meiner und seiner Generation aus der Seele gesprochen“, sagte der in Deutschland aufgewachsene türkische Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu am Montag unserer Zeitung in Istanbul. „Trotz 92 Länderspielen immer noch Bürger auf Bewährung? Das geht natürlich nicht“, sagt er. Auch der ehemalige SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun kritisierte die Attacken auf Özil in der Bundesrepublik: „Die Integration hat verloren.“

Lob für Özil aus der Türkei

Vertreter der türkischen Regierung lobten Özil für seinen Rücktritt aus dem deutschen Team. Dabei war Özil in der Vergangenheit in der Türkei wegen seiner Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft zeitweise angefeindet worden. Bei deutschen Länderspielen gegen die Türkei wurde er von türkischen Fans mitunter ausgepfiffen. Zuletzt aber hätten viele Türken bei der WM in Russland wegen Özil den Deutschen die Daumen gedrückt, sagte Ceyhun unserer Zeitung. „Özil war ein tolles Vorbild“ für Türken in Deutschland, sagte er. „Er war der Beweis, dass man etwas werden kann und anerkannt wird – doch man sieht, es ist nicht so einfach“, fügte Ceyhun hinzu. „Jetzt haben wir dieses Vorbild verloren.“

Yeneroglu, Parlamentsabgeordneter für Erdogans Partei AKP, warf deutschen Politikern vor, ihre Reaktionen auf den türkischen Staatspräsidenten zu verkürzen. „Bei der Diskussion geht es aber nicht um Erdogan“, betonte Yeneroglu. „Es geht um Bevormundung, es geht darum, dass man den Migranten das einseitige deutsche Bild von Erdogan aufzwingen will und solchen, die nicht spuren, den Weg zum Ausgang weist.“

Türkische Minister gratulieren Özil

Türkische Medien und Regierungsvertreter signalisierten Unterstützung für den türkischstämmigen Profi von Arsenal London. „Mesut, wir sind stolz auf dich“, titelte die Zeitung „Türkiye“ in deutscher Sprache. Der türkische Sportminister Mehmet Kasapoglu schrieb auf Twitter, er unterstütze Özils „ehrenhafte Haltung“ von ganzem Herzen; Kasapoglu nannte Özil einen „Bruder“. Justizminister Abdulhamit Gül beschrieb den Rücktritt des Nationalspielers als „schönstes Tor gegen den Virus des Faschismus“. Besonders Özils Aussage, dass er nach wie vor zu dem umstrittenen Erdogan-Foto steht, wurde ihm von türkischen Medien hoch angerechnet. Damit treffen sich rechtspopulistische Kritiker Özils in Deutschland mit türkischen Rechtspopulisten – beide Seite sind überzeugt: Einmal Türke, immer Türke. Özil stehe zwischen den Nationalisten beider Länder, kommentierte die linke Tageszeitung „Evrensel“.

Sehen Sie im Video: Das sagen die Menschen in Stuttgart:

Die Lehre aus dem „Fall Özil“

Der Stuttgarter Zekeriya Aktas sieht auch eine gute Seite an der Diskussion über Özil. Es werde nun endlich offener und auch ehrlicher über den Stand der Integration geredet. Er persönlich hat eine Lehre gezogen und will sich stärker an der Debatte beteiligen. Dasselbe fordert er auch von den anderen Deutschen mit ausländischen Wurzeln. „Wir werden zu häufig in der Opferrolle gedrängt, sobald wir uns gegen die Diskriminierung wehren. Das muss sich ändern“, sagt er.