„Einfach mal die Fresse halten“ – das hat eine linke Parteifreundin Boris Palmer auf dem letzten Bundesparteitag empfohlen. Doch er hält sich nicht dran. Foto: dpa

Der Konflikt, den Tübingens OB mit seiner Partei hat, sagt mehr über seine Partei aus als über ihn, meint unser Kommentator Rainer Wehaus. Wer bei den Grünen in der Flüchtlingspolitik anders denkt, der wird an den rechten Rand gedrängt.

Stuttgart - Dies ist eine traurige Geschichte. Über Menschen, die an den rechten Rand gedrängt werden, weil sie anders denken, kritische Fragen stellen, eine Kurskorrektur fordern. Boris Palmer (45) ist so einer. Der Tübinger Oberbürgermeister und Sohn des einstigen Remstalrebellen Helmut Palmer war ein grüner Hoffnungsträger. Dann aber hat er als Kommunalpolitiker hautnah mit erleben müssen, welche Folgen die von seiner Partei so heftig beklatschte Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel hat. Und er kann einfach den Mund nicht halten. Heute nennt man Palmer den „grünen Sarrazin“.

Rechthaber Sarrazin

Thilo Sarrazin (72) war ebenfalls ein erfolgreicher Stadtpolitiker. Als Finanzsenator bescherte er Berlin im Jahr 2007 den ersten ausgeglichenen Etat. Dann aber begann der SPD-Politiker über Zuwanderung zu reden. Bestimmte Kulturkreise, so meinte er, seien schwerer zu integrieren als andere. Sarrazin schrieb ein Buch („Deutschland schafft sich ab“) fiel in Ungnade, seine Partei strengte ein Ausschlussverfahren an. Dieser Schritt hatte insofern seine Berechtigung, als Sarrazin tatsächlich irgendwann anfing, rassistisch zu argumentieren. Von vielen angefeindet, versuchte er, seine Behauptungen auch noch genetisch zu untermauern. So kann es sich hochschaukeln, wenn auf beiden Seiten Rechthaber sitzen.

Palmer und die Sex-Delikte

Bei Boris Palmer ist es fast soweit. Auch er wird bereits als Rassist beschimpft – ein Vorwurf, mit dem Linke und Grüne bekanntlich schnell bei der Hand sind. Am Freitag hat Palmer auf seiner Facebook-Seite beklagt, dass sich auch im beschaulichen Tübingen die Sex-Delikte von Flüchtlingen häuften. Er sprach zum Beispiel von einer „Gruppe Schwarzer“, die auf einem Fest Frauen belästigt hätten und wünschte sich in einem konkreten Vergewaltigungsfall, dass die Polizei DNA-Proben von allen schwarzen Asylbewerbern in der Stadt genommen hätte. So wäre laut Palmer der mehrfache Sex-Täter früher überführt worden.

Grüne Zumutung

Aus all dem lässt sich, wenn man es aus dem Zusammenhang reißt und nur böswillig genug interpretiert, ein weiterer Strick für Palmer drehen. Man würde sich nicht wundern, wenn die Grünen gegen ihren „grünen Sarrazin“ bald auch ein Ausschlussverfahren anstrengten. Dabei sagt die Aufregung über Palmer mehr über seine Partei aus als über ihn: Die Positionen der Grünen in der Flüchtlingspolitik sind noch immer gefährlich naiv und bedrückend verantwortungslos. Nicht Palmer ist eine Zumutung für die Grünen. In Wahrheit sind die Grünen in dieser Frage eine Zumutung für jeden Politiker, der in der Verantwortung steht. Es wundert daher nicht, dass auch Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit den Illusionen, die sich seine Partei in der Flüchtlingsfrage macht, wenig anfangen kann.

Es spitzt sich zu

Der Konflikt um Palmer wird sich noch zuspitzen. Am 3. August, also mitten im Bundestagswahlkampf, will er in Berlin sein neuestes Buch vorstellen. Es dreht sich um die Flüchtlingspolitik und trägt den Titel „Wir können nicht allen helfen“. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, verursacht bei Linken und Grünen bereits Schnappatmung. Soll heißen: Palmer wird mit seinem Buch noch mehr Ärger kriegen. Dabei argumentiert er durchaus differenziert und ist zumindest in ökologischen Fragen ein echter Grüner.

Überholte Gewissheiten

Ja, Palmer ist auch ein Selbstdarsteller. Man muss ihn nicht mögen. Aber er hat in der Flüchtlingskrise dazugelernt. Vor dem großen Zustrom 2015 vertrat er noch weitgehend die Parteilinie. Dazuzulernen ist bei den Grünen aber offenbar nicht vorgesehen. Die meisten verschanzen sich hinter ihren Gewissheiten – mögen die auch längst überholt sein. Und das ist das wirklich Traurige an der Geschichte.

rainer.wehaus@stuttgarter-nachrichten.de