Tunesiens Präsident Saied geht immer drastischer gegen Kritiker vor und startete eine Kampagne gegen dunkelhäutige Migranten. Die EU schweigt dazu: Ihr geht es vor allem darum, Flüchtlinge an der Überfahrt aus Tunesien nach Italien zu hindern.
Der tunesische Präsident Kais Saied nimmt für sich in Anspruch, die Demokratie in seinem Land zu verteidigen – doch er handelt immer mehr wie ein Diktator. Tausende Menschen haben am Samstag deshalb – und wegen der wachsenden wirtschaftlichen Not – gegen den Kurs von Saied demonstriert. Er hat prominente Kritiker seiner Politik festnehmen lassen, die Chefin des europäischen Gewerkschaftsbundes aus dem Land geworfen und eine Kampagne gegen dunkelhäutige Migranten gestartet. Von Kritik aus dem Westen bleibt Saied bislang aber verschont. Der EU geht es vor allem darum, Flüchtlinge an der Überfahrt aus Tunesien nach Italien zu hindern.
Saied versprach bei Amtsübernahme den Kampf gegen Korruption
Als Saied vor anderthalb Jahren das Parlament auflöste und die Regierung nach Hause schickte, hatte er noch viele der zwölf Millionen Tunesier auf seiner Seite. Viele waren die Machtspiele der Politiker in Tunis satt und hofften auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Tunesien hatte 2011 die Herrschaft von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali abgeschüttelt und damit den Arabischen Frühling ausgelöst, aber die Demokratie enttäuschte viele Erwartungen. Saied, der 2019 ins Amt kam, verdankte seine anfängliche Popularität seinem Versprechen, gegen die Korruption vorgehen zu wollen.
Inzwischen ist der Lack ab. An einem Referendum über eine neue Verfassung, mit der sich der Präsident weitreichende Machtbefugnisse sicherte, beteiligten sich voriges Jahr nur 30 Prozent der Wähler. Bei Neuwahlen des Parlamentes im Dezember und Januar gingen nur elf Prozent der Wähler zur Urne. Mit der Begeisterung der Tunesier für Saied und ihrem Vertrauen in den Präsidenten sei es vorbei, sagte Nebahat Tanriverdi von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin unserer Zeitung.
Saied lässt Richter und Oppositionspolitiker festnehmen
Von der neuen Verfassung zum Alleinherrscher gekürt, geht der 65-jährige Saied immer drastischer gegen Kritiker vor. In den vergangenen Wochen ließ er Oppositionspolitiker, Richter, den Chef eines populären Rundfunksenders und einen Funktionär des mächtigen Gewerkschaftsbundes UGTT festnehmen. Auch ein Politiker, der unter Diktator Ben Ali so schwer gefoltert wurde, dass er gelähmt ist, kam in Haft. Gegen den Vorsitzenden der tunesischen Journalisten-Gewerkschaft, Mhedi Jlassi, wurden Ermittlungen eingeleitet. Richter, die Beschuldigte als unschuldig entließen, wurden vom Präsidenten zu Komplizen der angeblichen Staatsfeinde erklärt.
Bei einer UGTT-Kundgebung gegen den Präsidenten forderte die als Gast geladene Vorsitzende des europäischen Gewerkschaftsbundes ETUC, Esther Lynch, die Freilassung des festgenommenen Gewerkschafters. Saied warf ihr eine Einmischung in innere Angelegenheit Tunesiens vor und ordnete ihre Ausweisung an. Kurz darauf nahm er Migranten aus schwarzafrikanischen Ländern ins Visier und erklärte, sie würden von ausländischen Kräften geschickt, um Tunesien zu überfremden. Menschenrechtlern werfen dem Präsidenten Rassismus vor.
Tunesien gleite in einen „völligen Verfall“ schreibt die Denkfabrik Timep
Die Tunesien-Expertin Tanriverdi sagte, Saied verfolge mit den Festnahmen von Kritikern zwei Ziele. Zum einen wolle er sich als Kämpfer gegen angeblich korrupte Mitglieder der Elite profilieren und damit möglichst viele Tunesier auf seine Seite bringen. Zum anderen wolle er Anführer von Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft zum Schweigen bringen, um zu verhindern, dass die Unzufriedenheit zu einer „Welle der politischen Veränderung“ anwachse. Die Tirade des Präsidenten gegen Schwarzafrikaner dient laut Tanriverdi dazu, eine angebliche ausländische Bedrohung an die Wand zu malen.
Tunesien gleite ab in einen „völligen Verfall“, erklärt Aymen Bessalah von der Nahost-Denkfabrik Timep. Dieser Verfall spielt sich im Windschatten internationaler Krisen wie dem Ukraine-Krieg und der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien ab und wird bislang vom Westen weitgehend ignoriert. Die US-Regierung zeigte sich zwar besorgt wegen Saieds Verhaftungswelle, zögert aber mit Sanktionen – sie befürchtet offenbar, der Präsident könnte sich Rivalen der USA wie China zuwenden.
Rund 32 000 Flüchtlinge fuhren von Tunesien aus nach Italien
Der Blick der EU auf Tunesien wird von der Flüchtlingsfrage geprägt: 2022 fuhren rund 32 000 Flüchtlinge in Booten von Tunesien aus nach Italien, das waren etwa 30 Prozent aller Flüchtlinge, die in Italien ankamen. Europa befürchtet einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen und stellt deshalb das Ziel stabiler Verhältnisse in Tunesien in den Mittelpunkt. Saieds autokratische Tendenzen werden toleriert, auch wenn EU-Länder wie Deutschland die tunesische Führung an „demokratische Grundsätze der freien Meinungsäußerung und politischen Vielfalt sowie des Rechtsstaats“ erinnern, wie es der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner kürzlich formulierte.
Diese vorsichtige Kritik an Saied steht in einem auffälligen Gegensatz zur handfesten wirtschaftlichen Unterstützung Europas für Saieds Regierung. Erst im November versprach Europa 100 Millionen Euro an Finanzhilfen für den tunesischen Staatshaushalt. Von Sanktionen gegen Saieds Regierung ist keine Rede. Tunesische Oppositionspolitiker zeigen sich enttäuscht, doch bis jetzt belässt es die Bundesregierung dabei, ihre „große Sorge“ wegen „der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage“ in Tunis zu äußern.