Die Schar der Demonstranten ist bunt gemischt, hat aber ein Ziel: Stuttgart soll fahrradfreundlicher werden Foto: Petsch

Nabe(l) der Welt? Nein. Stuttgart könnte ein Eldorado für Radfahrer sein. Ist es aber nicht. Daher demonstrieren monatlich etwa 500 Radler in einem Konvoi unter dem Namen „Critical Mass“ für eine fahrradfreundliche Stadt. Nächste Ausfahrt: am kommenden Freitag um 18.30 Uhr.

Nabe(l) der Welt? Nein. Stuttgart könnte ein Eldorado für Radfahrer sein. Ist es aber nicht. Daher demonstrieren monatlich etwa 500 Radler in einem Konvoi unter dem Namen „Critical Mass“ für eine fahrradfreundliche Stadt. Nächste Ausfahrt: am kommenden Freitag um 18.30 Uhr.

Stuttgart - Es ist einer dieser ersten Freitage im Monat. Kurz nach sechs, an der S-BahnHaltestelle Feuersee. Noch sind es nur ein paar Radfahrer. Ein halbes Dutzend etwa. Höchstens. Aber mit jeder Minute werden es mehr. Einer von ihnen trägt sein Credo als Signal auf dem T-Shirt: „Cars kill. Ride a bike“. Sprich: Autos töten, steig aufs Rad um! Plötzlich strömen wie von einem magischen Signal angezogen Fahrradfahrer aus allen Himmelsrichtungen auf den Feuersee im Westen zu. Am Ende werden es knapp 500 sein. Rekord. 500 einzelne Radfahrer, aus denen ein Kollektiv wird. Eine kritische Menge im Verkehr. Auf Englisch: Critical Mass.

So nennt sich die Bewegung, die sich einmal im Monat mit etwa 10 km/h Geschwindigkeit über die Straßen in vielen deutschen Großstädten wälzt. Die Ursprünge liegen in in San Francisco. Dort rollte 1992 die erste Critical Mass durch die Straßen. Auch um zu zeigen, dass der Radfahrer zum Stadtverkehr zählt. Seither radeln sie gegen die PS-Allmacht der Autofahrer an. Aber anders als in San Francisco, Berlin, Köln oder Hamburg gehen die Critical-Mass-Demonstrationen in Stuttgart geordnet zu.

In anderen deutschen Städten wollen die Rad-Demonstranten bewusst provozieren. Sie machen sich Paragraf 27 der Straßenverkehrsordnung zunutze. Dieser erlaubt einer Gruppe von 16 Radfahrern, dass sie nebeneinander fahren und die ganze Breite der Straße einnehmen dürfen. So radeln sie mitten durch die Stadt und bremsen den Autoverkehr aus. Es hat etwas von Kampfradeln, von Guerillataktik gegen Blechlawinen .

In Stuttgart fehlt dieser Ansatz. „Wir sind eine angemeldete Demo“, sagt Organisator Alban Manz und zeigt auf die vier Polizei-motorräder sowie die zwei Polizeiautos, die seine kritische Masse auf den kommenden 18 Kilometern in etwa zwei Stunden vom Feuersee bis nach Bad Cannstatt an den Güterbahnhof eskortieren. Bisher immer ohne Zwischenfälle.

Polizei hat Verständnis für die Anliegen der Radfahrer

„Das läuft problemlos“, sagt ein Polizeibeamter, „es ist daher auch einer meiner Lieblingseinsätze. Zumal ich auch Verständnis für die Anliegen der Radfahrer habe.“ Er weiß aus seinem Alltag, dass es immer wieder zu Konflikten zwischen Zweirad- und Autofahrern kommt. Auch Ingrid und Karola, zwei Damen aus Stuttgart, erleben das täglich. „Man fühlt sich als Radfahrer oft bedroht und wird beschimpft. Stuttgart ist eine Autostadt“, sagt Karola, und Ingrid ergänzt: „Ja, Stuttgart ist eine Autostadt. Aber wir Radfahrer wollen auch Platz.“

Die beiden Frauen vertreten dieses Rad-Kollektiv ganz gut. Wer sie als gutbürgerlich bezeichnet, liegt nicht falsch. Hier radeln keine radikalen Kräfte oder Gruppen mit. Zumindest treten sie nicht als solche in Erscheinung. Es ist auch kein Ersatz-Programm für müde gewordene S-21-Aktivisten. Diese Demonstranten lassen sich kaum in politische Ecken schieben, sie machen lediglich Propaganda für eine neue Kultur der Fortbewegung. Das Motto lautet zwar „Ritzel statt Rußpartikel“. Aber sie sind nicht einfach nur gegen, sondern weitblickend für etwas. Nämlich für eine fahrradfreundliche Stadt. Ein Grundanliegen der Critical Mass ist, sicheren Verkehrsraum für Radfahrer zurückzugewinnen.

Dementsprechend trifft sich hier alles und jeder: Studenten, Rentner, Familien mit Kindern, Angestellte und Akademiker. Mit Klapprad, mit Rennmaschine, Mountain- oder E-Bike. Es ist ein bunter Mix. Das Ganze bekommt so eher den Charakter eines zwanglosen Sonntagsausflugs. „Wir wollen eigentlich Werbung fürs Rad machen und hoffen auf mehr Anerkennung und Akzeptanz im Verkehr“, sagt Alban Manz.

Der Initiator des Massenradelns, der im Mai 2010 die Organisation der Critical Mass mit, wie er sagt, „acht Hanseln auf Rädern“ übernommen hatte, ist das beste Beispiel für den freudvollen Ansatz dieser Demo. Manz zieht einen Fahrradanhänger mit gewaltigen Lautsprechern hinter sich her, aus denen Reggae-Klänge wummern. Auf seinem Anhänger steht die Botschaft: „We are traffic“ – Wir sind der Verkehr.

Das spüren die Autofahrer an den Demotagen leidvoll. Die vier Raureiter der Polizei sperren die Straßen, die von den Radlern gekreuzt werden, konsequent ab. Sogar die Theodor-Heuss-Straße gehört auf beiden Fahrtrichtungen den Drahteseln. Während die meisten Autofahrer verständnislos den Kopf schütteln, fotografieren Passanten eifrig mit ihren Smartphones. Und die 500 Radler genießen ihre unbegrenzte Freiheit und klingeln nach Herzenslust. In das Konzert stimmt ein Teilnehmer ein: „Es lebe das Velo. Jetzt müssen die Autofahrer lernen zu teilen.“

Ob das tatsächlich gelingt? Wird ein Autofahrer, der freitags wegen einer Fahrraddemo zu spät zu seinem Termin kommt, Einstellung und Verhalten gegenüber Radlern ändern? Alban Manz ist realistisch: „Ich glaube, dass wir mit dieser Aktion eher die Passanten als Autofahrer erreichen. Aber das sind ja oft auch Autofahrer.“

Die Radler um Alban Manz setzen eher auf den Lustfaktor. Sie zeigen: Radfahren ist nicht nur günstig und hält die Luft rein. Es kann auch enorm Spaß machen. Vor allem, wenn die Menge wie am kommenden Freitag (Start am Feuersee um 18.30 Uhr) wieder kritisch wird.

Fritz Kuhn will mehr Radverkehr

In Stuttgart beträgt der Anteil der Radfahrer etwa sieben Prozent am gesamten Verkehrsaufkommen. Oberbürgermeister Fritz Kuhn wünscht sich langfristig eine Steigerung auf 20 Prozent. Sein Nahziel sind zehn Prozent Radanteil. „Eine moderne Großstadt mit sieben Prozent Fahrradanteil, das kann’s nicht sein. Um die Innenstadt zu entstressen, bräuchten wir eigentlich zwanzig Prozent weniger Autoverkehr“, sagt OB Fritz Kuhn.

Zum Vergleich: In Hamburg soll die Zahl von 12 auf 18 Prozent gesteigert werden. Im Ausland ist man weiter. Städte wie Amsterdam oder Kopenhagen gelten als Vorzeigekommunen auf dem Weg zu einer fahrradfreundlichen Stadt. Sogar die New Yorker haben angesichts der Verkehrsproblematik das Fahrrad entdeckt. Man hat dort in den vergangenen Jahren 600 Kilometer Radstreifen geschaffen. 6000 Leihräder sind in New York zu haben.

StN-Redakteur Tom Hörner wird bei der Critical-Mass-Demo an diesem Freitag mit dem Rad mitfahren und für unsere „Tour de Stuttgart“-Reihe ein Video drehen. Produziert wird der Film vom Internetsender Stuggi-TV.

Mehr Infos im Internet unter: http://criticalmassstuttgart.wordpress.com/