In den Innenstädten in der Region Stuttgart schließen viele Händler und Gastronomen selbst in Toplagen ihre Geschäfte. Was tun mit den Leerständen? Was wünschen sich die Bürgerinnen und Bürger? Und was müssen die Kommunen tun?
Der Zustand der Innenstädte im Südwesten erinnert Sabine Hagmann an ein schlecht gepflegtes Gebiss. „Wenn es lange Leerstände und Lücken gibt, brechen wie bei einem Gebiss die anderen Zähne auch heraus – schon jetzt nimmt die Vielfalt ab“, sagt die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg.
Allein in diesem Jahr werden nach einer Prognose des Handelsverbands Deutschland rund 9000 Geschäfte aufgeben, der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga befürchtet 12 000 Schließungen im kommenden Jahr, falls die Mehrwertsteuer auf Speisen und Getränke wieder von sieben auf 19 Prozent steigt. Doch wie umgehen mit den Leerständen? Und wie die Innenstädte künftig gestalten? Dieser Frage ging ein Roundtable nach, zu dem unsere Zeitung Vertreter von Handel, Gastgewerbe und Stadtentwicklung geladen hatte.
Die Stadtentwicklerin spricht von einer „Zeitenwende“
Von einer „Zeitenwende“ in der Stadtentwicklung spricht Martina Baum, Professorin für Stadtplanung an der Universität Stuttgart. Dass selbst in kaufkräftigen Gegenden Händler in Schwierigkeiten geraten, sei „eine neue Problemlage“. Durch das boomende Onlineshopping seien die Kundinnen und Kunden wählerischer geworden. „Wenn sie schon rausgehen, soll auch das Einkaufserlebnis stimmen.“
Deshalb setzen auch in Stuttgart Händler zunehmend auf Showrooms mit Internetanschluss. Immer mehr Kunden meiden zudem Treppen und Rolltreppen. Deshalb und um Kosten zu sparen, verkleinern viele Händler ihre Flächen und konzentrieren sich auf das Erdgeschoss, wo die Waren sichtbar und leicht zugänglich sind.
Überhaupt entschieden die Mieten maßgeblich, wie sich die Innenstädte entwickeln, betont Hagmann. „Wenn die Mietverträge enden, machen viele Mittelständler zu, weil es sich nicht mehr lohnt und weil sie es ihren Kindern nicht antun wollen, das Geschäft weiterzubetreiben.“
Über die Mietpreise zu verhandeln ist in den Toplagen wie in der Stuttgarter Königsstraße schwer geworden. Der Immobilienmarkt ist globalisiert, die Investoren sitzen in aller Welt, Ansprechpartner sind nur schwer zu bekommen. „Das ist ein Riesenproblem. Früher konnte man Lösungen finden, die für beide Seiten vor Ort tragfähig sind und auch der Angebotsvielfalt geholfen haben“, sagt Stadtplanungsexpertin Baum.
Schon jetzt leidet mit der Vielfalt auch die Anziehungskraft: Laut einer Befragung des Instituts für Handelsforschung (IFH) in 111 Innenstädten sagte jeder Zweite, man würde die City Freunden oder Bekannten nicht weiterempfehlen. Noch immer zählen der Einkauf (60 Prozent der Befragten) und die Gastronomie (35 Prozent) zu den Besuchsgründen, doch für fast jeden zweiten Befragten sollen Citys auch Begegnungsorte sein und zum Verweilen einladen, für jeden dritten spielen auch Kunst und Kultur eine große Rolle. Stadtplaner wiederum drängen darauf, dass auch Bibliotheken, Bildungseinrichtungen und bürgernahe Dienstleistungen wieder in die besten Lagen ziehen.
„Bei ganz viel Handelnden hört die Stadt um 20 Uhr auf“
Wer die Innenstädte beleben wolle, müsse aber auch schauen, wie lange die Vielfalt anhalte, wirft Jürgen Kirchherr, Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, ein. „Bei ganz vielen, die über Stadtentwicklung diskutieren, hört die Stadt um 20 Uhr auf.“ Die Clubkultur etwa werde kaum wertgeschätzt, obwohl sie die Städte jünger und attraktiver mache. „Die Lärmschutzverordnung passt dann nicht mehr zu den Bedürfnissen in der Stadt, wenn man selbst im Hochsommer um 22 Uhr die Bürgersteige hochklappen muss. Das betrifft auch die kulturellen Veranstaltungen.“ In Kaiserslautern etwa dürften Gastronomen in den Außenbereichen Speisen und Getränke an den Wochenenden bis Mitternacht anbieten – der Test läuft bis Oktober.
Verordnungen überprüfen und unnötige Hürden beseitigen und mehr ans Ermöglichen denken als ans Verbieten – darin sieht Kirchherr den Schlüssel, um die Innenstädte zu verändern. „Die Stadt wird von Menschen gemacht. Wir müssen den Machern mehr Freiraum geben, anstatt sie einzugrenzen. Eigentlich müsste man die Macher fragen, was man für sie tun kann, anstatt bürokratische Normen zu kontrollieren.“
„Tübingen lockt die Familien in die Innenstadt“, sagt die Handelsexpertin
Manche Städte gingen hier voran, betont Hagmann vom Handelsverband – Ravensburg, Biberach und Nagold nennt sie als Beispiele. In Tübingen habe man die Außengastronomie auch nach der Pandemie ausgeweitet, samstags sei der Busverkehr kostenlos. Im dortigen Stadtmuseum bot man jüngst etwa ein Ferienprogramm für Kinder. „Sie machen viel, um die Familien auch am Wochenende in die Innenstadt zu locken.“
Um auf die Stadtentwicklung Einfluss zu nehmen, bräuchten die Kommunen aber auch den nötigen Spielraum und Immobilien, betont Baum von der Uni Stuttgart. Die Stadt Karlsruhe entwickle und bewirtschafte mit zwei Tochtergesellschaften Projekte und Immobilien – darunter Läden, Gastronomie, Kultur- und öffentliche Einrichtungen. „Karlsruhe bietet günstigere Mieten an, damit sie die Vielfalt in der City sichern.“
Stuttgart dagegen fehle noch eine Stadtentwicklungstochter. Die Landeshauptstadt müsse darüber hinaus ihre Gebäude für die Bürgerinnen und Bürger stärker öffnen. „Warum muss die Oper nur abends geöffnet sein, warum kann man das Kunstmuseum nicht besser bespielen?“, fragt Baum. Mehr nicht kommerzielle Aufenthaltsorte seien nötig, betont sie. „Jeder kann mal versuchen, sich im Winter bei schlechtem Wetter in der Innenstadt aufzuhalten, ohne dafür zu bezahlen – das wird schnell schwierig. Die Innenstadt ist das Herz des öffentlichen Lebens, da darf niemand ausgeschlossen werden.“
Hagmann nimmt die Kommunen aber auch in die Pflicht, wenn es darum geht, die Unternehmen in den Innenstädten zu unterstützen. „Die Kommunen wie auch das Land sollten einen Investitionsfonds für die Innenstädte schaffen und die Gewerbesteuer aufrechnen, wenn Unternehmen auch in die Infrastruktur der Stadt investieren“, schlägt die Chefin des Handelsverbands vor. Am wichtigsten aber sei es, für leer stehende Gebäude eine Zwischennutzung zu finden – „damit sich nicht die Umgebung mit verschlechtert“.
Dann könnte auch das Gebiss, das sie derzeit mit den Innenstädten verbindet, wieder strahlen.