Keine Panik: Ihr seid nicht die einzigen, die auf dem Sofa regelmäßig Serien gucken, die sie schon zigmal gesehen haben. Experten nennen das „Comfort Binging“ und haben einige Erklärungen dafür.
Stuttgart - Wenn Verena Göbel abends den Tag gegen ihre Jogginghose tauscht, setzt sie sich gerne zu Rachel und Monica aufs Sofa. Während sie entspannt die Füße hochlegt, unterhalten die beiden New Yorker Freundinnen sich über ihr Leben. Verena Göbel fühlt sich wohl – und das, obwohl es besagtes Sofa eigentlich gar nicht gibt. Zumindest nicht in Göbels Zweizimmer-Wohnung im Stuttgarter Westen. Dennoch: Nach einem langen Tag zieht sich die 33-jährige Architektin gerne in den Kosmos der US-Serie „Friends“ zurück, hier gehört auch das Sofa hin. Das tut die Stuttgarterin obwohl – oder gerade weil? – sie alle 236 Folgen inzwischen so oft gesehen hat, dass sie die Szenen einzeln mitsprechen kann.
Auch Streaming-Anbieter wie Netflix oder Apple TV haben das Potenzial von Serien erkannt, die sich Menschen immer wieder aufs Neue ansehen. Wer solche Kultformate im Portfolio hat, lockt potenzielle Kunden an: Für die Nutzungsrechte von „Friends“ zahlte Netflix 2019 zum Beispiel rund 100 Millionen US-Dollar. Konkurrent Amazon Prime bot jetzt noch mehr – am 14. November wechselte die Serie ihr digitales Zuhause, die Fans dürften folgen. Aber warum eigentlich? Die Show bietet ihren Zuschauern schließlich seit Langem nichts Neues mehr.
Serien, mit denen man sich wohl fühlt
Doch für viele Menschen geht es gerade bei solch vertrauten Formaten um etwas anderes: „Comfort Binging“, also „Wohlfühl-Glotzen“, wird das Phänomen dann genannt. „Menschen, die Comfort Binging betreiben, suchen nicht unbedingt nach Unterhaltung“, schreibt die US-amerikanische Journalistin Alexis Nedd, die den Begriff in einem Essay auf der Plattform „Mashable“ prägte. „Sie sind vielmehr erschöpft und versuchen, ihr Gehirn mit bekannten Stimmen, Geräuschen und Plots zu entspannen.“
„Comfort Binges“, das sind also jene Serien, mit denen wir uns am wohlsten fühlen, wenn wir uns nach einem langen Tag klein und verletzlich auf dem Sofa zusammenrollen. Zu denen wir gerne zurückkehren, wenn wir müde, traurig oder ausgelaugt sind. Wie eben ins Wohnzimmer der „Friends“-Clique. „Es könnte sein, dass solche Formate heute ein notwendiges Mittel sind, um die Erschöpfung im Angesicht einer chaotischen, überstimulierenden Welt zu bekämpfen“, meint Nedd.
Ruhe im Kopf
Beim Comfort Binging geht es daher nicht um die Qualität von Spannungsbögen, Kameraeinstellungen oder Figurenkonstellationen. Es geht darum, mit minimalem Aufwand größtmögliches Vergnügen zu erzielen. Wer zum 100. Mal „Gilmore Girls“ guckt, sucht kein intellektuelles Abenteuer mehr, sondern ein Gefühl: Während man leise wegdämmert, die Spülmaschine einräumt oder die eintrocknenden Zimmerpflanzen gießt, sorgt die Serie für Ruhe im Kopf. „Das Phänomen lässt sich gut vor dem Zweiklang „Überlastung/Entlastung“ erklären“, meint auch Medienwissenschaftler Thomas Wilke. Wer sich überfordert fühle, suche nach einem Ausgleich – und greife dabei auf Bekanntes und Vorhersehbares zurück.
Besonders Menschen unter 35 finden das oft in den Serienfiguren, mit denen sie über Jahre hinweg aufgewachsen sind. „Das hat etwas mit ihrer Mediensozialisation tun: Die intensive Serienerfahrung ihrer Jugend hat eine ganz andere Qualität als zum Beispiel 80er-Jahre-Formate wie Lassie“, sagt Wilke. Junge Menschen seien mit dem Angebot und der ständigen Verfügbarkeit ihrer Serien aufgewachsen – deswegen könnten sie sich beim Comfort Binging eher entspannen als Ältere.
„Friends“, „How I Met your Mother“ oder „Gossip Girl“ fühlen sich für sie nach fiktivem Heimkehren an: Serien, die man schon oft gesehen hat, bieten Behaglichkeit ohne Gefahren. In die Vertrautheit dieser fiktionalen Welten kann man sich kuscheln wie in eine Wolldecke, die immer ein bisschen nach Zuhause riecht.
Manchmal werden Serienfiguren zu Freunden
Einer der Fachbegriffe für dieses Gefühl heißt „parasoziale Beziehung“ und beschreibt die freundschaftsähnliche Verbundenheit zu Figuren, die in Wirklichkeit gar nicht Teil des eigenen Lebens sind. „Das klassische Beispiel dafür ist das Fußballspiel: Wenn man als Fan vor dem Fernseher sitzt und den Schiedsrichter anschreit, ist man stark in das Spielgeschehen eingebunden und identifiziert sich mit den Personen“, sagt Wilke. Aber auch fiktionale Figuren können zu Wegbegleitern und Freunden werden. „Besonders wenn in einer Serie Alltagssituationen besprochen oder unterkomplexe, aber emotional aufgeladene Probleme besprochen werden, die als Projektionsfläche dienen können, schaut man sich bei den Figuren gerne etwas ab.“
Dass man sich dieselben Dinge wiederholt anschaut, statt sich neuen Formaten zuzuwenden, hat zudem etwas mit den schier endlosen Wahlmöglichkeiten verschiedener Streaming-Anbieter zu tun. Ob aus Überforderung oder Faulheit: Oft greifen Menschen instinktiv zu etwas Bekanntem statt Energie für etwas Neues aufzubringen. „Bekannte Serienformate entlasten auch, weil sie nicht mehr die Sogwirkung des Unbekannten entfalten. Man weiß schon, was passiert“, erklärt Thomas Wilke.
„Menschen haben Angst davor, sich falsch zu entscheiden“
Dass zu viel des Guten alles andere als wunderbar ist, lässt sich auch psychologisch nachvollziehen. Die kanadische Psychologin Seena Iyengar hat sich über Jahre hinweg mit der Frage beschäftigt, wie Menschen auf Wahlmöglichkeiten reagieren. In ihrem Buch „The Art of Choosing“ schreibt sie dazu: „Wenn es zu viele Wahlmöglichkeiten gibt, erleben Menschen ihre Wahl als verwirrend, anstrengend oder frustrierend. Sie sind überfordert und entwickeln manchmal sogar Angst davor, sich falsch zu entscheiden.“ Wenn Menschen mehr als zehn potenzielle Wahlmöglichkeiten hätten, träfen sie fast immer schlechte Entscheidungen.
Der Comfort Binge hingegen ist die sichere Bank – schließlich wurden die Serien schon exzessiv getestet: Man passt zueinander, man kennt sich, man weiß, wie der andere tickt. Und das, obwohl die Serien oft nicht zu all dem passen, wozu die Personen unter anderen Umständen greifen würden. „Was zum Comfort Binge wird, hat mehr mit Identifikation als mit Anspruch zu tun“, erklärt Thomas Wilke. Oft seien es Serien mit einfacher, episodenhafter Handlung und kleinem Figurenpersonal, die für das Comfort Binging gewählt würden. Der Grund: Dann verpasse man nichts und könne jederzeit wieder einsteigen.
Dennoch sei es nicht ausgeschlossen, dass auch komplexe Formate wie „Game of Thrones“ zum fiktiven Wohlfühlort würden: Wenn man sich zum Beispiel früh intensiv mit der Serie auseinandergesetzt habe, werde das dadurch ausgelöste Wohlfühlmoment wieder hervorgerufen, wenn man sich die Serie nochmal anschaue, so Wilke. Was für Verena Göbel also Rachel und Monica sind, kann für jemand anderen genauso gut Walter White oder Jon Snow sein. Hauptsache, auf dem fiktiven Sofa wird es kuschelig.
Was ist eigentlich Binge-Watching?
Binge-Watching:
Während das analoge Fernsehen Serienformate oft im wöchentlichen Turnus ausstrahlt und seine Zuschauer zwingt, einige Tage auf die nächste Folge ihrer Lieblingsserie zu warten, stellen Streamingdienste wie Netflix ganze Staffeln auf einmal zur Verfügung. Die Folge: Serienbegeisterte schauen sich mehrere Folgen direkt hintereinander an. Dieses Phänomen bezeichnet man als Binge-Watching, also als einen Serienmarathon.
Friends:
Die US-Serie um sechs Freunde, die sich meist in einer WG in Manhattan treffen, wurde ursprünglich zwischen 1994 und 2004 ausgestrahlt. Inzwischen hat sie Kultstatus erreicht und versammelt eine riesige Fangemeinde hinter sich.