Der Kinosaal hat Geschichte: Hier wurde vor 60 Jahren Cola abgefüllt. Zuvor parkte die Omnibusverkehrsgesellschaft Aalen ihre Busse in dem Gebäude. Foto:  

Wer sich an dieser Genossenschaft beteiligt, bekommt keine Dividende. Nur gute Filme. Und das schon seit zehn Jahren.

Aalen - Wenn Juliane Hoffmann im Kino am Kocher in Aalen mal auf die Toilette muss, benutzt sie immer die rechte Kabine. Dann studiert sie die hellen beigefarbenen Bodenfliesen, die wie ein Mosaik verlegt sind – und erinnert sich. Denn Juliane Hoffmann ist hier auf den Knien herumgerutscht und hat Fliesen gelegt, zusammen mit vielen anderen fleißigen Helfern. Das ist jetzt zehn Jahre her, „da ist viel Herzblut reingeflossen“, sagt Hoffmann.

Das Kino am Kocher war 2006 das erste Genossenschaftskino in Deutschland. Mittlerweile gibt es in Baden-Württemberg noch drei weitere Genossenschaftskinos, in Bad Waldsee, in Karlsruhe und seit kurzem auch in Reutlingen. Der Vorteil einer Genossenschaft gegenüber einem Betreiberverein: „Man wird nur einmal zur Kasse gebeten“, sagt Jürgen Schwarz, der wie Juliane Hoffmann zu den Mitbegründern der Programmkino Aalen eG gehört – und schon die Anfänge eines Programmkinos in Aalen begleitet hat.

„Hast du noch Bock auf Kino?“

Das war Mitte der 90er Jahre als eines der Ergebnisse des Agenda-Prozesses entstanden, mit dem Ziel, das Leben in Aalen zu verbessern, erinnert sich der 60-Jährige. Der Wunsch nach einem soziokulturellen Zentrum scheiterte am Geld, stattdessen wurde der Verein Kulturküche gegründet. Einer der Köche hieß Jürgen Schwarz. Zusammen mit anderen suchte er den Kontakt zum hiesigen Kino. Dort wurden fortan in einem der sieben Säle ausgewählte Filme gezeigt, anfangs nur dienstags, gegen Ende lief das Programmkino „Klappe, die erste“ die ganze Woche.

Der Traum vom eigenen Programmkino entstand in Berlin. Juliane Hoffmann besuchte dort das Sputnik, ein kleines Hinterhofkino im fünften Stock, in dem die Sitzreihen gemauert und das Filmegucken etwas ganz anderes ist als in einem modernen Multiplexcinema mit Flughafenflair. „Können wir das nicht auch machen?“, fragte sie Jürgen Schwarz. Damals trauten sie sich nicht. Zwei Jahre später sprach wieder jemand Schwarz an – und bot an, einen Raum zur Verfügung zu stellen. „Hast du noch Bock auf Kino?“, fragte er Juliane Hoffmann.

Die Genossenschaftler zeigen Improvisationstalent

Hatte sie, wie 166 andere Aalener auch, die Anteile an der neuen Genossenschaft zeichneten. Sie hatten ausgerechnet, dass etwa 30 000 Euro als Startkapital reichen müsste. Damit verkalkulierten sie sich zwar gründlich, allein die Technik verschlang mehr als die Hälfte. 90 000 Euro waren es am Ende.

Das erforderte Improvisationsgeschick. Sobald die Technik stand, veranstalteten die Genossenschaftler ein sogenanntes Baustellen-Kino und zeigten „Das Leben ist eine Baustelle“. Dafür wurde kein Eintritt verlangt, sondern Austritt: Wer wollte, konnte nach der Vorführung spenden. Auch beim Innenausbau und beim Mobiliar für den Kinosaal und die dazu gehörende Kneipe forschten die Filmfreunde nach Spendern. Die Tische? Waren mal Kabeltrommeln. Die schöne Holzfensterfront, durch die man von der Kneipe in den Garten blickt? Bot bis zu einem Umbau den hiesigen Waldorfschülern schöne Aussichten. Die Kinosessel? Gehörten mal einem Reutlinger Filmhaus. Die Kneipenstühle, Türen, Lampen, die Toiletten und der Tresor – alles Aussortiertes einer Unterkochener Firma. „Wir haben heute noch deren Briefumschläge“, sagt Juliane Hoffmann.

In diesem Kino hat jede Schraube eine Geschichte. Auch das Gebäude selbst. Vor hundert Jahren stellte die Omnibusverkehrsgesellschaft Aalen (OVA) ihre Busse dort ab; die alten Garagentore zeugen noch immer davon. Von 1954 an stand im heutigen Kinosaal die erste Coca-Cola-Abfüllanlage für Süddeutschland.

Ehrenamtliche packen mit an

An den Garagentoren hängen keine OVA-Schilder mehr. Stattdessen ist dort ein überlebensgroßer Heinz Erhardt aufgemalt, der auf die noch größere Marlene Dietrich einredet. Die Genossenschaft ist auf 584 Mitglieder angewachsen. Das Kino hat jedes Jahr mehr als 13 000 Zuschauer und arbeitet kostendeckend. Das funktioniert nur, weil sich eines nicht geändert hat: Immer noch fließt viel Herzblut in den Betrieb. 80 Ehrenamtliche helfen mit, es gibt eine Programmgruppe, eine Kassierergruppe und eine Filmvorführergruppe. Vorführungen gibt es an sieben Tagen die Woche, nur in zwei Wochen im August und an Feiertagen bleibt im Kino am Kocher die Leinwand dunkel. „Das hier ist mehr als ein Kino“, sagt Juliane Hoffmann. „Das ist ein Ort der Begegnung.“

Für Jürgen Schwarz war das Kino die Chance auf einen Neuanfang. Er hat vor zehn Jahren den ungeliebten Job bei einem Optiker gekündigt und die Kinokneipe gepachtet. Womöglich steht bald wieder ein Neubeginn an. Der 60-Jährige hofft sehr darauf. Im Herbst entscheidet der Gemeinderat, ob ein altes Ausbesserungswerk der Bahn für 24 Millionen Euro zum sogenannten Kulturbahnhof ausgebaut wird. Dort sollen das Stadttheater, die städtische Musikschule und das Kino am Kocher unterkommen. Unumstritten ist das Projekt nicht, die Grünen lehnen es aus Kostengründen ab. Klappt es, ist das Filmhaus mit Geschichte bald selbst Geschichte.