Klassische Symphonie, Erster Satz, Chor. Leonid Lawrowski, Tänzer: John Cranko Schule, Akademie B, Klassen 5&6 Foto: Stuttgarter Ballett

Bei einer Matinee der John Cranko Schule beweist der Stuttgarter Ballett-Nachwuchs wieder sein großes Potenzial.

Stuttgart - „Fantasque, Modére“: Die ersten Takte der Komposition „Notations I-IV“ sind auf die Bühnenrückwand projiziert. Eine Zeichnung in schwarz-weiß. Die rote kurze Hose, die Adhonay Soares da Silva trägt, fügt das Bild zum farblich- ästhetischen Ganzen.

Da Silva, Absolvent 2014/2015 der John Cranko Schule des Stuttgarter Balletts, setzt die Komposition des 1925 geborenenen Franzosen in extreme Körperlichkeit um. Hoch eingesprungene Pirouetten, die Hände immer wieder gespreizt vom Leib gehalten, eine imaginäre Kraft wegschiebend, trägt der Tänzer die eher düstere Stimmung in „Rhythmique“, den zweiten Teil. Der Tänzer winkelt die Arme zu 90 Grad an, hebt und senkt dieses geometrische Konstrukt wie außerkörperliche Pulsschläge, wendet sich mit flehenden Bitten himmelwärts – da Silva antwortet auf die Klänge mit einer Choreografie von Uwe Scholz.

Ganz und gar gibt sich da Silva den gebrochenen Harmonien hin, spürt dem Zweifel, der Hingabe nach, lässt das restlos begeisterte Publikum die inneren Dämonen ahnen, die den 2004 verstorbenen Tänzer und Choreografen Uwe Scholz besetzten, dessen Karriere in Stuttgart begann.

Dass Marius Petipas (1818-1910) Choreografien bis heute ihre Strahlkraft nicht verloren haben, bewies Shogu Hayami. Der in diesem Jahr mit dem Youth America Grand Prix ausgezeichnete Japaner glitt in einer Szene aus „Don Quixote“ zum Dreiviertel-Takt über den Bühnenboden, auch er ein Tänzer mit hohen, sehr kraftvollen Sprüngen und im „Solo für Diego“ (Choreografie Richard Wherlock) zu Mikis Theodorakis Musik elegant, leicht und humorvoll im körperlichen Ausdruck. „Brava“ auch für ihn.

Kollegen, Familien, Freunde des Tanzes und Förderer, die traditionell die Ballett-Matinee besuchen, erwarten von diesem Ereignis mehr als nur eine Leistungsschau im künstlerischen Bühnentanz. Denn erst in der Expressivität, in der Gestaltung der Rollen zeigt sich die Individualität eines Tänzers, zeigt sich, was er in den Jahren seiner Ausbildung an der Barre (Stange) oder im Milieu (der Mitte) über sich selbst erfahren und manchmal auch erlitten hat.

Puristen des klassischen Balletts applaudierten, wenn die jungen Tänzer zu Sergei Prokofjews Klassischer Sinfonie (erster Satz) unter zwei fürstlichen Kronleuchtern die Perlen des klassischen Bühnentanzes, synchron vorgeführt in Varianten des Plié, Tendue und Relevè, zu einer Choreografie von Leonid Lawrowsky fügten.

Als Uraufführung für 20 Schüler der Klassen 1 bis 4 kam „Spirits of Nature“ des italienischen Choreografen Marco Laudani über die Bühne. Fließende Bewegungen, Garderoben aus fließendem Material zu Musik von Johannes Brahms zeigten Mitglieder der Akademie A und B. Mit koketten Passagen, neckischen Pferdchensprüngen, ländlichen Posen amüsierten die Schüler in einem Ausschnitt aus dem Handlungsballett „Najade und der Fischer“. Wie verschieden selbst die Jüngsten schon sind, begeisterte beim Auftritt von Schülern der Klasse 2. Im blau-weißen Ganzkörper-Outfit vollführten sie stark akrobatisch dominierte Figuren zur Musik der Blue Man Group. Ein komödiantisches Spiel.

Die Reise durch Epochen und Tanzstile, versprochen von Direktor Tadeusz Matacz, hatte mit den Bläulingen fast ihr Ziel erreicht. Mit einem Rausch aus leuchtenden Farben und herber Musik (Benjamin Britten) beschenkten sechs Tänzerinnen und Tänzer das Publikum in einer Choreografie von Alastair Marriott. Die Pizzicato der Streicher, die Retardandi der Komposition „Simple Symphonie“ – wie Seismografen nahmen die älteren Schüler die Botschaften der Musik auf, übertrugen sie in der Gruppe oder im Pas de Deux als Körperzittern, romantische Berührungen, in skurrile Figuren. Blumen, in die Arme der älteren Schüler, Dozenten und Mitarbeiter gelegt und im Korb für alle auf die Bühne getragen, krönten den künstlerischen Mittag im ausverkauften Opernhaus.