Das Finale der Oper „Chowanschtschina“ in Stuttgart mit dem Staatsopernchor und Mikhail Kazakov als Dossifej Foto: A. T. Schaefer

Die Stuttgarter Erstaufführung von Mussorgskys Oper über die Machtkämpfe in Russland vor Amtsantritt von Zar Peter dem Großen gab mit eindrucksvollen Bildern tiefe Einblicke in die bis heute zerrissene Seele des russischen Volkes.

Stuttgart - Die Bühne ist voller Menschen. Sie haben ihre schwarzen Gewänder abgelegt, stehen in weißen Unterkleidern da, die Arme weit ausgebreitet. „Der Herr ist mein Hirte“, zitiert der Staatsopernchor Stuttgart singend den 23. Psalm der Bibel, „mir wird nichts mangeln.“ Dann strömt Gas aus dem großen orthodoxen Kreuz, das hinten auf der Bühne steht, und ein Altgläubiger nach dem anderen sinkt leblos auf den Boden. Am Anhaltischen Theater in Dessau, das die Stuttgarter Neuinszenierung von Modest Mussorgskys Oper „Chowanschtschina“ gemeinsam mit dem Nationaltheater Weimar koproduzierte, sorgte diese Schlussszene von Andrea Moses’ Inszenierung 2011 im Publikum für große Betroffenheit. Zyklon B, das Giftgas der nationalsozialistischen Vernichtungslager, war ein Produkt der Dessauer Zucker-Raffinerie.

An der Oper Stuttgart haben die Trockeneis-Schwaden zum kollektiven Selbstmord im Finale auch ohne dieses Wissen betroffen gemacht. Es hätte aber geholfen, den Hintergrund zu kennen. Das gilt auch für vieles andere an diesem Abend: Andrea Moses und ihrem Bühnen- und Kostümbildner Christian Wiehle sind eindrucksvolle Bilder gelungen, aber die Wirren der vom Komponisten grob montierten Handlung, die Motivation der Männer, die ohne Rücksicht auf Kollateralschäden um den Gewinn und Erhalt persönlicher Macht kämpfen, kann nur verstehen, wer sich vorher schon ein wenig eingelesen hat in Mussorgskys Überblendungen verschiedener historischer Ereignisse und in deren Wurzeln. Die Kämpfe und Verquickungen zwischen Religion und Politik, die Konflikte zwischen Altgläubigen, Revolutionären und Fürsten im Russland des 18. Jahrhunderts für den Zuschauer zu sortieren und so zwischen einer sehr fernen Opernhandlung im sehr fernen Russland und einem (west-)deutschen Publikum von heute zu vermitteln wäre eine Aufgabe der Regie gewesen.

Dass Andrea Moses hier nicht klar genug agiert, ist allerdings der einzige Vorwurf, den man ihr machen kann, und wer Mussorgskys „musikalisches Volksdrama“ bereits kannte, wird ihn ihr schon deshalb gar nicht erst machen, weil die Inszenierung ansonsten ausgesprochen schlüssig und packend gerät. Dies wiederum gründet zuallererst in der Fähigkeit der Regisseurin, aus der Masse des Staatsopernchors ein Kollektiv von Individuen zu formen: In dieser „Chowanschtschina“ ergreifen das Leiden und die Ohnmacht des Volkes vor allem deshalb, weil hier ganz unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich fühlen und handeln dürfen.

Sprechendstes Beispiel dafür ist die große Szene am Ende des vierten Aktes: Als die Kämpfer der Strelitzen und ihre Frauen von ihrer Begnadigung durch Zar Peter erfahren, sieht man Leid, Verwirrung, Verzweiflung, unbändige Freude, Entfesselung, Fassungslosigkeit. Da können die Augen der Zuschauer auf eine lange Entdeckungsreise gehen.

Die Ohren tun das sowieso, denn Chor und Extrachor der Oper, die auch auf Balkonen und im Zuschauerraum auftreten, präsentieren sich an diesem Abend in Bestform. Mussorgskys farbige Chorsätze, sein authentisches und künstlich hergestelltes russisches Volksgut klingen aus den Kehlen dieser Sänger extrem klar, gebündelt und geradezu idiomatisch; vor allem der Männerchor beweist höchste Strahlkraft. Wer noch nicht wusste, wie außerordentlich dieses Kollektiv ist, der kann es in „Chowanschtschina“ hören.

Wobei auch Simon Hewett für diesen Erfolg mitverantwortlich sein dürfte: Am Pult des Staatsorchesters hält der Erste Kapellmeister des Hauses mit viel Präzision die so unterschiedlichen Fäden der als Torso hinterlassenen Partitur zusammen, die hier in der Fassung Dmitri Schostakowitschs und mit Igor Strawinskys Finale gegeben wird, und widmet sich geradezu liebevoll den instrumentalen Details wie den Gegensätzen zwischen kraftvollen Massenszenen und lyrischen Szenen von fast kammermusikalischer Anmutung.

Unter den guten Sängern ragen – neben Askar Abdrazakov als Iwan Chowanskij, Ashley David Prewett als Schaklowityi und Rebecca von Lipinski als Emma – drei ganz besonders heraus: Christianne Stotijn verleiht der schillernden Marfa nicht nur sängerisch, sondern auch darstellerisch eine Fülle von Gefühlsfarben, Matthias Klink gibt den glatten Fürsten Golitzyn, der hier ständig angstvoll mit Putzmittel und Lappen unterwegs ist, mit klarer Höhe und nuanciertem Spiel, und Mikhail Kazakov macht mit seinem prägnanten Bass den Dossifej zu ebenjener zwielichtigen Figur, als die Andrea Moses den Führer der Altgläubigen zeichnet.

So, wie Kazakov den Dossifej darstellt – intrigant, geil, ein Karrierist im Priestergewand –, wird er zum Zentrum einer Oper, in der die Macht wie eine Zentrifuge wirkt. Opfer der „Chowanskij-Schweinerei“ (so eine mögliche Übersetzung des Operntitels) ist ein Volk, das zwischen unterschiedlichen politischen Kräften und der Religion, zwischen Geschichte und Zukunft zerrieben wird. Andrea Moses zeichnet das mit feinen, präzisen Details und zeigt deutlich die Orientierungslosigkeit von Menschen, die den Umgang mit Freiheit nie wirklich gelernt haben. Wie sehr diese Zerrissenheit bis heute anhält, deutet vor allem das Bühnenbild an: Da steht McDonald’s-Werbung neben einem Christusbild und Coca-Cola-Reklame neben den Türmen des Kreml, und die Fürsten diskutieren bezeichnenderweise auf dem Rücken eines riesigen Bären.

Ansonsten sieht man Babuschka und Laptop, Mickymaus, Plattenbau und einen Kosmonauten der UdSSR. Und am Ende hat man vielleicht nicht verstanden, wohl aber gefühlt, warum die russische Seele auf so erschreckende und faszinierende Weise anders ist als die unsere. Das allein schon ist einen Opernbesuch wert.

Nochmals am 27. 11. sowie am 3. und 10. 12.; Karten unter 07 11 / 20 20 90