Foto: Christoph Mett

Das multimediale Benefiz-Projekt von Carus-Verlag und SWR 2 wirft neuen Blick auf alte Lieder.

Stuttgart - Für den besonderen Dialog auf der Expo 2010 in Schanghai am Deutschen Pavillon singen Hosts und Hostessen deutsche Volkslieder an der Karaokestation. Zu Hause sorgen ein Verlag und ein Sender aus dem Schwäbischen unbefangen für die Verbreitung des Liedguts.

Liedgut? Das Wort hat keinen guten Klang. Es klingt nach Singstunde, riecht nach Feierabendkollektiv. Es schmeckt nach dem Graubrot einer lauwarmen Musikpädagogik und nie ganz vergangenen Zeiten. Die Achtundsechziger fegten das deutsche Liedgut mit selbstherrlicher Attitüde vom Tisch. Heino, der Barde, man konnte es hören, trug die marschierende deutsche Unbelehrbarkeit im Kern seiner rechthaberischen Singdemonstration durchs Land; dröhnte oder röhrte er das Lied "Schwarz-braun ist die Haselnuss", löste es den antifaschistischen Reflex der jungen studentischen Elite und ihrer Epigonen aus.

Die Volksliedforscher wussten damals, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, noch nicht, dass dieses Lied auch im Lagerliederbuch des Konzentrationslagers Sachsenhausen von 1942 stand. Wie viele andere Lieder der Jugendbünde vor 1933 gehörte es gleichzeitig zum Repertoire der Opfer wie zu dem der Täter.

Dann rollte Gotthilf Fischer aus Deizisau mit seinen Chören das deutsche Fernsehland vom Neckartal her auf. Die Blondkehlchen in der ersten Reihe zwitscherten die alten Weisen, die der unschwäbisch frohgemute Chormaster in karajanesk geschönte, glatt gebügelte Kostümarrangements gesteckt hat. Auch dabei fühlte man sich nicht wohl. Mit Fischers erster Langspielplatte bei Polydor, "Song of Joy" - Sänger, hört die Signale! -, begann im Jahr 1971 die Kommerzialisierung der Volksmusik. In irrealen Kulissen tobt sich heute die Volksmusiksparte der Musikindustrie aus.

Aufgefordert in der Fremde, ein Lied seiner Heimat zu singen, schnürt es einem die Kehle zu. Wir haben das Liedersingen verlernt, es vermutlich nie richtig gelernt. Es ist aus Alltag und Schulunterricht verschwunden, mehr als die ersten Zeilen längst vergessener Gedichte und ein paar zaghaft intonierte Melodiefetzen sind vom deutschen Liedgut nicht hängen geblieben.

In den alten Liedtexten geht es oft um Abschied und Tod

Dann kam Cornelius Hauptmann mit der Bassstimme und setzte die Idee eines Wiegenliederprojekts in die Welt. Das Radio, der gute alte Volksempfänger, spielte die alten Weisen, ein Verlag lieferte Text und Notenmaterial. Es wurde ein Erfolg, alle staunten. Nun gibt es eine Fortsetzung, und am Ende schaut eine vierteilige Anthologie deutscher Volkslieder dabei heraus. Und jetzt machen auch wir von der Zeitung uns Gedanken über das Volkslied.

Hellhörig geworden von der großen Resonanz, fand Hauptmanns Idee eine Nachahmung, weshalb, nach der langen Funkstille, gleich zwei Volksliededitionen auf CD auf dem Markt sind. Vom Carus-Verlag aus Leinfelden-Echterdingen, dem Urheber, und vom Konzern Sony Music Entertainment aus New York, dem Kopierer. Jedes Kind weiß, wie der Kampf zwischen David und Goliath ausgegangen ist.

Sony taucht in den Brunnen der Vergangenheit. Die Illustrationen des Gautinger Postkartenmalers Paul Hey (1867 bis 1952) im ocker getönten Begleitheft zur CD "Wenn ich ein Vöglein wär" beschwören eine Welt, die nicht von dieser Welt ist und es nie war. Ringelpiez mit Anfassen: Mädchen beim Reigen und Gänse auf grüner Au vor spätmittelalterlichem Dorfidyll. Selbstredend sind die namhaften Sänger der Lieder von nostalgischen Anwandlungen frei.

Für Carus (und Reclam) bohrte sich Christoph Mett, 32-jähriger Zeichner und Trickfilmer aus Münster, monatelang, "Tag und Nacht", in das Thema hinein. "Die Gesichter bei Ihnen sind gar nicht fröhlich", sage ich. "Das Mädchen auf dem Titelbild schaut skeptisch, andere sind traurig, distanziert, irgendwie cool. Das Lustige ist in der Bewegung, in der Perspektive, im Blick auf die Welt." - "Meine Illustrationen beziehen sich auf die alten Liedtexte, in denen es häufig um Abschied und Tod geht", sagt Mett. "Es sind ernste Texte im romantischen Mantel verborgen, Herz-Schmerz-Geschichten, die unerfüllte Liebe, das hat viel mit uns zu tun. Es gibt auch den Frühling, die lebensbejahenden Bilder."

Carus-Verleger Johannes Graulich wollte nichts Nostalgisches, sagt Künstler Mett, er "sollte nicht irgendeine Suppe aufwärmen. Ich hatte die Freiheit, auch Skater zeigen zu können." Wenn das Liederbuch da ist und man darin blättern kann (im Internet kann man das auch), also die Seiten einzeln von Hand umschlagen kann, werden uns die Augen aufgehen. Christoph Mett hat in seinen Collagen einige kleine Überraschungen versteckt, das ist ihm zuzutrauen.

Das Schöne am Lied ist ja auch, dass immer ein Vogel geflogen kommt. Alle Vögel sind schon da, da sitzen wir noch auf den Bäumen. Stellen wir uns das vor: eine ozeanblaue Nacht im All. Die in Voliere und Käfig eingesperrten Vögel haben das Licht angeknipst, sie singen. Es ist ein flammender Gesang, der ihrem Schnabel, dem himmlischen Schalltrichter, entweicht. Der Vogel mit dem flatternden Notenlinienband spielt an auf Noahs tolle Taube mit dem erlösenden grünen Zweig. Es ist das Bild von Christoph Mett zu dem Lied "Die Gedanken sind frei", das Ende des 18. Jahrhunderts auf Flugblättern die Runde machte. Das wäre jetzt was zum Vorsingen...

"Yesterday" von den Beatles ist ein Volkslied - oder?

Damals, im Jahr 1787, schrieb der Dichter, Journalist und Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart sein berühmtes "Kaplied". 1787 verkaufte der württembergische Herzog Carl Eugen 3200 seiner Soldaten an die Holländisch-Ostindische Kompanie. Die Soldaten wurden zum Kap an der Südspitze Afrikas verschifft und kämpften dort gegen Eingeborene. Nur wenige von ihnen kehrten in die Heimat zurück. Der Herzog hatte Schubart zehn Jahre lang widerrechtlich auf der Festung Hohenasperg gefangen gehalten. Als Schubert von den verkauften Landsleuten erfuhr, schrieb er, noch im Kerker, dieses Lied. Aus zeitgenössischen Berichten geht hervor, dass das Kaplied bald nach seiner Veröffentlichung im ganzen Land bekannt war.

Manche Lieder haben einen langen Weg hinter sich. Lieder aus dem Lochamer Liederbuch um 1450 werden heute noch gesungen und hören sich atemanhaltend gut an, wenn sie so fein empfunden sind wie hier. Fast jedes Volkslied ist durch viele Hände gegangen. Berühmtes Beispiel: "Ännchen von Tharau", dem der Remstalschwabe Friedrich Silcher (1789 bis 1860) seinen bis heute gebräuchlichen Männergesangvereinsschliff gab, geht zurück auf einen Text des Barockdichters Simon Dach (1605 bis 1659) aus dem ostpreußischen Memel (heute Litauen), den wiederum der einschüchternd universal gelehrte Johann Gottfried Herder übertragen hat. Herder prägte 1770 den Begriff vom Volkslied, um den sich die Gelehrten gelegentlich heute noch streiten.

Papagenos glockig untermaltes Lied aus Mozarts "Zauberflöte", "Ein Mädchen oder Weibchen", war ein Gassenhauer ebenso wie "La donna è mobile", die Canzone des Herzogs von Mantua aus Verdis Oper "Rigoletto" am Abend der Uraufführung 1851. "Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehn", um mal ein beliebiges Beispiel zu nennen, war ein Schlager mit Volksliedcharakter, solange er in aller Munde war. "Yesterday" von den Beatles ist ein Volkslied, oder etwa nicht?

Kriege (der Dreißigjährige Krieg hat ein ganzes Liederbuch gezeugt), Freiheitsbewegungen bringen Volkslieder hervor. Der Protestsong "We shall overcome", die Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, ist so ein Volkslied. "Die Wacht am Rhein", von Walter Mossmann umgedichtet während der Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl, wurde zur AKW-Hymne. Schillers "Ode an die Freude" auf Beethovens unsterbliche Melodie ist ein Lied aller Völker. "Freude schöner Götterfunken", umgewidmet von dem Lyriker Timo Brunke zu "Freunde schöner Kopfbahnhöfe", entfaltet bei den Bürgerprotesten in Stuttgart eine ganz eigene Kraft. Hier singt das Volk. Ohne die "Marseillaise", heute die Nationalhymne der Franzosen, wäre die Geschichte anders verlaufen, schreibt Stefan Zweig in seinem Buch "Sternstunden der Menschheit".

Alles Große fängt klein an. Für den Anfang reichen uns sechs Töne in C-Dur. Singen wir jetzt bitte gemeinsam das Lied "Alle meine Entchen".

Wir schließen uns dem Volksliederprojekt an und drucken jeden Freitag, ein Jahr lang, auf der Extraseite "Tipps für Trips" ein Volkslied. Start ist am 17. September.