Eine Simulation der Gegner der Mall zeigt deren Dimension. In der Gabel vorne steht das denkmalgeschützte Café Hanser Foto: upartic

Die Schweizer Wechselkursfreigabe hat den südbadischen Einzelhandel beflügelt. Jetzt drängen die Betreiber riesiger Shoppingmalls in die Innenstädte – auch nach Singen, wo es einen starken Mittelstand gibt. Was wollen die Bürger?

Singen - Wer die Postkarte gesehen hat, kann nicht anders, er will die neue Singener Einkaufswelt einfach haben: Da präsentiert sich das geplante ECE-Center als hell erleuchteter Komplex mit dunklen Steinsäulen und viel Glas, der die Kunden in Scharen anzieht. Doch wer die Karte kippt, landet schnell wieder im traurigen Hier und Jetzt. Da erscheint der verwaschene Beton des Holzerbaus und daneben das ebenfalls aus den 70er Jahren stammende Flachdachgebäude der Commerzbank. Die Kunden, die eben noch lächelnd und mit vollen Taschen die Fußgängerzone entlangschlenderten, sind wie weggeblasen. Stattdessen hastet ein einsamer Mann mit Regenschirm durchs Bild.

In tausendfacher Auflage – und mit finanzieller Unterstützung des Investors ECE – hat die Bürgerinitiative Lebendiges Singen das Wackelbild unter die Leute gebracht. Denn am Sonntag soll nichts schiefgehen. Dann darf die Bevölkerung entscheiden, ob Singen ein großes innerstädtisches Einkaufszentrum bekommt. Der Gemeinderat hat den Plänen für die Problemimmobilie gegenüber dem Bahnhof begeistert zugestimmt. Gleichzeitig gab er den Bürgern das letzte Wort – vorausgesetzt, das Quorum wird erreicht. Die Mehrheit zählt nur, wenn sie mindestens 20 Prozent der 36 500 Wahlberechtigten ausmacht.

Das Thema treibt vor allem die Einzelhändler um

Die Frage spaltet vor allem die Singener Geschäftswelt. Apotheker, Karstadt-Geschäftsführer und Buchhändler sind gegen das Center. Fotoladenbesitzer, Sportartikelhändler und Dönermann sind dafür. Die einen warnen vor einem Ladensterben in den übrigen Einkaufsstraßen. Die anderen malen den Abstieg der Einkaufsstadt an die Wand, sollte das Center nicht kommen. Ob die Frage auch genügend Normalbürger an die Urnen treibt, muss sich zeigen.

Zuletzt machten sich bei den Informationsveranstaltungen gewisse Ermüdungserscheinungen breit. Dabei hatte der Oberbürgermeister Bernd Häusler (CDU) sogar den Fernsehjournalisten Alexander Niemetz als Moderator engagiert. Dieser agierte allerdings nicht so neutral, wie man es von einem gebürtigen Schweizer erwartet. „Ich kaufe selbst in Singen ein“, bekannte der Mann aus Zürich und nahm die Gegner ins Visier. „Wir wurden als nicht zukunftsfähige Angstmacher hingestellt“, beschwert sich Uta Preimesser von der Bürgerinitiative Für Singen, die mit Demonstrationen gegen das ECE-Center kämpft.

Der ehemalige Moderator des „heute- journals“ ist ein Teil einer Massenbewegung. Medikamente, Lebensmittel, Kleider: Alles ist in Deutschland viel billiger. Wegen der großzügigen Erstattung der Mehrwertsteuer und erst recht seit der Wechselkursfreigabe sparen die Kunden aus dem Nachbarland bei ihren Einkäufen 30 Prozent und mehr. Vor allem an Samstagen lassen die Schweizer überall entlang der Grenze die Kassen klingeln.

Der Boom hat die dortigen Mittelstädte für die Centerbetreiber interessant gemacht. In Radolfzell wird gerade das Seemax erweitert, ein Outletcenter der Firma Schiesser. In Waldshut gibt es ein großes Fachmarktzentrum vor den Toren der Stadt. In Lörrach reifen Pläne für das Postareal. Und in Weil am Rhein ist bereits der dritte Einkaufstempel in der Mache. Dort wird sich die überdachte Verkaufsfläche bald auf 50 000 Quadratmeter summieren.

In Konkurrenz zu Konstanz

Singen richtet seinen Blick allerdings nach Konstanz. Die Stadt am See mit ihrer Altstadt ist der oft beneidete Konkurrent im Landkreis. Nur beim Einkaufen hatte man im Hegau traditionell die Nase vorn. Das änderte sich, als 2003 am Konstanzer Bahnhof das Lago eröffnete. Es ist nicht so, dass das Center mit 15 000 Quadratmeter Verkaufsfläche den übrigen Konstanzer Einzelhandel geschwächt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Die Einkaufsstraßen werden seither regelrecht überrannt. Viele Konstanzer trauten sich an Samstagen überhaupt nicht mehr in die Altstadt, attestierte jüngst der „Südkurier“.

Singen befürchtet solche Verhältnisse nicht. Die Stadt sei bei der Verkehrserschließung schließlich wesentlich besser aufgestellt, sagt OB Häusler und fügt hinzu: „Wenn an einem Adventssamstag die Parkplätze nicht knapp werden, dann haben wir wirklich ein Problem.“ So weit könnte es jedoch kommen, wenn nichts geschieht. „Schon jetzt ist Singen nur noch Mittelmaß“, behauptet der von der Stadt beauftragte Handelsberater Jörg Lehnerdt. Um dem Online-Handel zu trotzen, müsse man „Shopping als Freizeiterlebnis“ bieten. Es gibt allerdings Experten, die anderer Meinung sind. „Von den Zahlen her hat Singen ein neues Einkaufszentrum nicht nötig“, sagt Bertram Paganini von der Industrie- und Handelskammer. Gewiss biete ECE die Lösung für das städtebauliche Problem am Bahnhof. Als Preis drohten Leerstände in anderen Einzelhandelslagen. Die Geschäfte außerhalb des Centers müssten mit Einbußen von 30 Prozent rechnen, heißt es in einem Gutachten. „Da wird die Stadt städtebaulich stark gefordert sein.“

Eine Shopping-Mall, Terroristen und der Bodensee

Projekt
Bis zum Ende des kommenden Jahres soll am Singener Bahnhof ein Einkaufszentrum mit 80 Läden und 16 000 Quadratmeter Verkaufsfläche entstehen. Der Bauherr ist Deutschlands größter Mallbetreiber, die Firma ECE, die der Versandhandelsfamilie Otto gehört. Bislang beträgt die Gesamtverkaufsfläche in der Singener Innenstadt 55 000 Quadratmeter.

Architektur
Die Fassade erinnert an Lavastein. Damit wollen die Planer den Charakter der durch Vulkane geprägten Hegau-Region in das Center holen. Der Grundriss erinnert an den Bodensee – weil eine Stelle ausgespart werden musste: Dort steht das denkmalgeschützte Café Hanser, in dem 1977 Verena Becker und Günter Sonnenberg, zwei Mitglieder der Roten-Armee-Fraktion (RAF), aufgespürt wurden.

Umsatz
Dank Schweizer Kundschaft erreicht Singen schon jetzt eine sogenannte Zentralitätsziffer von 188,9. Das heißt, der Umsatz liegt um 88,9 Prozent über dem Einzelhandelsbudget der Singener Einwohnerschaft. Zum Vergleich: Konstanz erreicht 146,5, Lörrach 154,2, Bad Säckingen 169, Weil am Rhein 167,2 und Waldshut 217,5. Die Landeshauptstadt Stuttgart liegt lediglich bei 121,7.