Präsidentin Dilma Rousseff kann das Amtsenthebungsverfahren kaum noch gewinnen. Was ist von ihrem bisherigen Vize Michel Temer zu erwarten? Bisher hat er wenig Profil gezeigt.
Brasilia - Natürlich hat ihm das niemand abgenommen. „Ich hab’ keine Zeit gehabt, ich musste Akten lesen“, sagte Brasiliens Interimspräsident Michel Temer auf die Frage, ob er die Rede von Noch-Präsidentin Dilma Rousseff vor dem Senat im Fernsehen verfolgt habe. Das glaube, wer mag – der Rousseff-Auftritt entschied mit darüber, ob Temer endgültig Staatschef wird, und er sieht sich das nicht an? Im Übrigen hat er am Montag nicht nur Akten gelesen, sondern auch an seinem Image der Unnahbarkeit gearbeitet. Der Liebhaber altertümlicher grammatischer Einsprengsel, den laut einer Umfrage 68 Prozent der Brasilianer ablehnen, hat Olympia-Sieger empfangen und sich vor den Kameras, ganz volksnah, eine Wasserball-Haube aufsetzen lassen. Für einen knapp 76-jährigen Verfassungsjuristen in Anzug und Krawatte eine recht possierliche Kopfbedeckung.
Während Temer an seinem Amtssitz, dem Palácio do Planalto in Brasília, Männchen macht für die Fotografen, arbeitet Dilma Rousseff schräg gegenüber, unter der Kuppel des Senats, an dem Bild, das sie in den Geschichtsbüchern hinterlassen will. Neues kommt nicht zu Tage, weder in ihrer Rede noch beim anschließenden Frage-und-Antwort-Spiel mit den 81 Senatorinnen und Senatoren. Sie gibt keine Schuld zu. Für die politische und wirtschaftliche Krise übernimmt sie so gut wie keine Verantwortung. Dafür stürzt sie sich auf die Umstände ihrer Amtsenthebung, die tatsächlich dubios sind, so legal sie auch sein mögen. Neunmal verwendet Rousseff in ihrer Rede das Wort „Putsch“. Kaum zu glauben, dass sie, die nun mit dem Rücken zur Wand steht und sich nur noch in ihrem eigenen Amtsenthebungsverfahren verteidigen kann, vor ein paar Jahren eine beliebte, anerkannte Politikerin war.
Als militante Gegnerin der Militärdiktatur gefangen und gefoltert, stieg sie unter ihrem Vorgänger, dem ehemaligen Arbeiterführer Luiz Inácio Lula da Silva, zu dessen wichtigster Mitarbeiterin auf. Lula hob sie 2009 als Nachfolgerin auf den Schild, 2010 siegte sie fulminant, und fast ganz Brasilien war begeistert. Die erste Frau an der Spitze Brasiliens fegte korrupte Minister hinweg, man lobte sie als „gerentona“, als fähige Geschäftsführerin Brasiliens, das 2010 noch zehn Prozent Wachstum verzeichnet hatte. Brasilien liebte sie, und die Welt auch – sie war die erste Frau, die je eine UN-Generalversammlung eröffnete, und die Obamas kamen sogar zum Familienbesuch zu ihr nach Rio.
Ungenügendes Krisenmanagement
Aber die Wirtschaft kühlte schnell ab, Rousseff versuchte durch höhere Staatsausgaben, Steuernachlässe, Anreize für den Binnenmarkt gegenzusteuern. Wie auch immer, die Kombination aus grüngelbem Keynesianismus und dem Abschwung der Weltwirtschaft werden heute dafür verantwortlich gemacht, dass Brasiliens Wirtschaft letztes Jahr um 3,8 Prozent geschrumpft ist. Dass sie das zu verschleiern versuchte, begründet formal das Impeachment. 2013 gingen Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die Korruption, die Kosten der Fußball-WM und die nach wie dürftigen Lebensbedingungen zu protestieren.
Dilmas Krisenmanagement war ungenügend. Brasilien blieb weiterhin schlecht gelaunt, auch wenn sie 2014 noch einmal mit Ach und Krach die Wahl gewann. Und im Jahr darauf, als jeden Tag neue Gruseligkeiten über die korrupte Verfilzung von Politik, Staatskonzernen und Privatwirtschaft in der Zeitung standen, begann sich das Unbehagen gegen die Chefin zu wenden. Auf den Straßen wurde „fora Dilma“ skandiert, weg mit Dilma, und da sie, von durchaus auffahrendem, arrogantem Wesen, sich nie groß um die Pflege ihrer parlamentarischen Basis gekümmert hat, stand sie, nach einem Jahr des widersprüchlichen, ungeschickten Regierens, Anfang 2016 jäh allein. Ihr konservativer Haupt-Koalitionspartner probte die Wende, auch die kleineren Partner setzten sich ab. Damit wurde die Amtsenthebung, die mit einer beschämend burlesken Abstimmung im Abgeordnetenhaus begann, erst möglich.
Und dadurch rückte plötzlich der ältere Herr, den das Publikum bis dahin vor allem wegen seiner 42 Jahre jüngeren Frau wahrgenommen hatte, jäh ins Zentrum des Geschehens: Michel Temer. Der brasilianische Vizepräsident ist eine protokollarische Gestalt, und als Vize unter Rousseff hat er schon gleich gar nichts zu melden. Darunter hat Temer gelitten – er, den Rousseff nun mit Schmähvokabeln wie Verräter und Putschist überzieht. Was ist von ihm zu erwarten? Zunächst einmal hat er seine fast vier Monate als Interimspräsident verstreichen lassen, ohne sich groß um ein Profil zu bemühen. Das mag man durch den Status als Interims-, als Noch-Nicht-Präsident rechtfertigen, und so argumentieren seine Helfer auch. Aber trotzdem: Mit seinem Namen verbindet sich weder der berühmte Ruck des Neuanfangs noch der Eindruck besonders energischen Regierens noch eine irgendwie bewegende Botschaft. Seine Regierung sei „ohne Gesicht“ geblieben, befand die Umfrage-Firma Ipsos, der zufolge der Anteil der Brasilianer, die die Regierung Temer schlecht oder ganz schlecht finden, sogar noch wächst, auf derzeit 49 Prozent.
Brasilianer mögen Privatisierung nicht
Die Sanierung der Wirtschaft und des Haushalts sei die Tat, die ihm das Vaterland abverlange, sagt Temer, der – bisher jedenfalls – beteuert, 2018 abtreten und nicht für seine eigene Nachfolge kandidieren zu wollen. Die Wirtschaft sei „hundertprozentig die Priorität“, beteuert auch Finanzminister Henrique Meirelles. Aber nicht einmal die elementaren Botschaften kriegt dessen angebliches „dream team“ rüber: „Montags, mittwochs, freitags kündigt die Regierung Steuererhöhungen an“, spottet der viel gelesene Kolumnist Elio Gaspari, „und dienstags, donnerstags, samstags garantiert sie, dass die Steuern nicht erhöht werden“. Temers Kabinett, das, wie Rousseff in ihrer Rede anklagte, nur aus weißen, älteren Männern besteht, hatte einen miserablen Start; mancher Minister verschwand nach Korruptionsvorwürfen sofort wieder in der Versenkung. Und Temers Leute stehen natürlich in der Schusslinie derer, die die Neuen als Neoliberalen attackieren. Temer hat erstaunlich lange gebraucht, um wenigstens einen Hauch von Sozialpolitik anzukündigen. „Niemand, der bei gesundem politischen Verstand ist, wird diese Programme abschaffen“, sagt der Politologe David Fleischer über die Sozialprogramme von Lula und Dilma. Temer hat das nun auch verstanden – er will sie grundsätzlich erhalten, aber neu auflegen, damit sie als seine identifizierbar sind.
Und sonst? Privatisierung! Das mag sinnvoll sein, zum Beispiel bei der Förderung des Tiefsee-Öls, das bisher weitgehend für den Staat reserviert ist. Aber natürlich bietet die Privatisierung jede Menge Chancen für Korruption, und ob man damit einen Blumentopf gewinnen kann, ist fraglich. Denn die Brasilianer mögen Privatisierung nicht. Sie sind noch aus den neoliberalen Neunzigern in schlechter Erinnerung. Was die oft als allein seligmachend gepriesene Privatinitiative bedeuten kann, machte am Wochenende eine Grafik in der Zeitung „O Globo“ klar, die man gerne schon vor den Olympischen Spielen gesehen hätte. Sie zeigte den Olympia-Park von Rio, der ja zu mehr als der Hälfte durch private Gelder finanziert wurde, in der Zukunft: Da wo jetzt noch die demontierbaren Arenen stehen, wogt ein wahres Meer an Hochhäusern, die Privatinvestoren von jetzt an bauen dürfen.