Richter verurteilten einen jungen Mann, der seine Wut nicht unter Kontrolle hat. Foto: Fotolia

Ein junger Mann beschimpfte und beleidigte Beamte, trat nach ihnen. Dafür verurteilte ihn das Böblinger Schöffengericht nun zu einer Bewährungsstrafe. Der 22-Jährige saß bereits im Gefängnis – wegen versuchten Totschlags.

Böblingen - Von schlampiger Arbeit der Polizei und Versäumnissen der Staatsanwaltschaft hat einer von zwei jungen Männern profitiert, gegen die das Böblinger Jugendschöffengericht am Donnerstag wegen gefährlicher Körperverletzung verhandelte. Der Auszubildende wurde freigesprochen, weil keiner der geladenen Zeugen gesehen hatte, dass er bei einer handfesten Auseinandersetzung in einer Böblinger Kneipe im Oktober vor zwei Jahren zugeschlagen hatte. Das sah das Gericht bei seinem 22 Jahre alten Mitangeklagten anders, den es wegen Körperverletzung, Widerstands gegen Polizeibeamte, Beleidigung und Bedrohung zu einer Strafe von einem Jahr zur Bewährung verurteilte.

Den Ärger mit der Polizei im Mai des vergangenen Jahres in Böblingen gibt der 22-Jährige zu. Er sei zusammen mit anderen durch die Stadt gezogen, dabei sei auch reichlich Alkohol geflossen, berichtete der Angeklagte: „Wir haben ziemlich viel Randale gemacht.“ Einen Platzverweis hatte die Polizei der Gruppe um den 22-Jährigen bereits in der Nacht erteilt. Auf ihn und seine Begleiter stießen Beamte erneut am frühen Morgen des 25. Mai bei der Kongresshalle. Es sei betrunken und aggressiv gewesen, sagte ein als Zeuge geladener Polizist über den 22-Jährigen. Ausgewiesen habe dieser sich noch. Doch als der Beamte ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihm zu einem Streifenwagen zu begleiten, der ihn zum Revier bringen sollte, „hab’ ich nur noch rot gesehen“, sagte der 22-Jährige. „Ich konnte mich da nicht mehr zügeln.“

Angeklagter saß schon wegen versuchten Totschlags in Haft

Der Gedanke, wieder in eine Zelle eingesperrt zu werden, war dem jungen Mann offenbar unerträglich. Im März 2010 hatte den damals 16-Jährigen das Stuttgarter Landgericht wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zusammen mit einem Kumpel hatte er im September 2009 in der Böblinger Bahnhofsunterführung ein Schweizer Paar brutal angegriffen und dabei den Mann lebensgefährlich verletzt.

In der Haft schien sich der junge Mann zu fangen und holte seinen Realschulabschluss nach. Wieder in Freiheit unternahm er zwei Anläufe, die Fachhochschulreife zu machen – allerdings vergeblich. Etwa ein Jahr lang suchte er nach einem Ausbildungsplatz. In die Zeit fallen auch die Taten, wegen denen er jetzt vor Gericht stand. Nach dem gewalttätigen Zusammenstoß mit den Polizisten in Böblingen hätten seine Eltern auf eine psychologische Behandlung gedrängt, die klären sollte, warum er immer wieder zu Gewaltausbrüchen neigt. Dabei kam der Verdacht einer Borderline-Störung auf.

„Er ist mit dem Neid auf den großen erfolgreichen Bruder aufgewachsen“, charakterisierte ein Kinder- und Jugendpsychiater den Angeklagten. Die schulischen Misserfolge hätten in der Familie zu großem Schmerz und Enttäuschung geführt – vor allem bei dem aus Nordafrika stammenden Vater. Die Kränkungen und seine Wut habe er außerhalb der Familie ausgelebt, sagte der Gutachter über den 22-Jährigen, „Alkohol spielte als Brandbeschleuniger eine nicht unerhebliche Rolle“.

Staatsanwältin wirft Polizei Schlamperei vor

Ob er vor der Schlägerei in einem Böblinger Lokal im Oktober vor zwei Jahren etwas getrunken hatte, konnte der 22-Jährige nicht sagen. Er erinnere sich nicht an den Tag. Sein später freigesprochener Mitangeklagter will an jenem Abend des 27. Oktober 2013 erst gar nicht in der Bar am Böblinger Marktplatz gewesen sein. Drei Zeugen, darunter der Wirt, sagten allerdings etwas anderes aus. Das Geschehen in jener Nacht, in der der Wirt und zwei Gäste Schläge eingesteckt hatten und in der Stühle durch das Lokal geworfen worden sein sollen, ließ sich nicht mehr klären. Wenig hilfreich waren da auch die Behauptungen zweier Zeugen, nicht der 22-Jährige habe zugeschlagen, sondern sie.

„Die Polizei hat nicht dazu beigetragen, mehr Licht in das Dunkel zu bringen“, sagte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer, räumte auch Versäumnisse ihrer Behörde ein. So wurden nicht alle Zeugen des Vorfalls gehört. Am Ende sprach das Gericht einen der Angeklagten frei, der einst wegen versuchten Totschlags verurteilte 22-Jährige kam mit einer Bewährungsstrafe davon, muss aber 100 Arbeitsstunden leisten. Auch er hat nun eine Lehrstelle, lebt mit seiner Freundin zusammen, die ein Kind von ihm erwartet. Der Vorsitzende Richter Günter Scheible verspürte deshalb einen „vorsichtigen Optimismus“.