Offene Schranke in der S-Bahn-Haltestelle: beinahe wäre Daniel Hanke in den Tunnel gelaufen. Foto: Peter Petsch

Wer die Augen schließt und mit einem Blinden auf Entdeckungstour geht, gewinnt neue Perspektiven. Die Behindertenbeauftragte hat sich darauf eingelassen und stellt fest: „Blinde Menschen sind von der Teilhabe in manchen Bereichen ausgeschlossen.“

Stuttgart - Augen zu und hören. Die Stimmen, das Lachen, knisternde Papiertüten und natürlich das Herbeirauschen der Züge. Die S-Bahn-Station Stadtmitte bietet eine Kakofonie von Alltagstönen. Aber keine Orientierung. Wer mitten auf dem Bahnsteig mit geschlossenen Augen steht, fühlt sich hoffnungslos verloren. Wo geht’s raus?

Der Selbstversuch lässt ahnen, wie blinde Menschen sich hier fühlen. Hilflos. Denn es gibt kein taktiles Leitsystem, das einem Sehbehinderten den Weg weist. So wird der Weg zum Ausgang zum Horrortrip. Daniel Hanke (21), seit seiner Geburt blind, macht es vor. Sein Kontakt zu den Dingen der Welt ist sein Zeigefinger. Besser gesagt: die Verlängerung seines Zeigefingers – der Blindenstock.

Mit ihm hält er einen stummen Dialog zu den Dingen im Dunkeln. „Mit ihm ertaste ich alles, was fühlbar ist“, sagt er und lässt den Stock im halbkreisförmigen Radius an die Kante des Bahnsteigs knallen. Sobald aber ein Zug vorbeirast, wird es brenzlig. Sogar lebensgefährlich. Vom Abgrund trennen ihn nur Zentimeter. Ein falscher Schritt, ein Rempler, und es wäre aus. „In Stoßzeiten kommen die Züge so schnell hintereinander, dass mir wenig Zeit bleibt, um ohne Zugkontakt zur Rolltreppe zu kommen“, sagt Hanke.

„Skandalös“

Er meistert die Strecke jedoch schneller als gedacht. Aber er findet kein Ende. Die Schranke, die einen vor dem schwarzen Schlund der Röhre schützt, ist offen. Hanke wäre im Normalfall nicht mehr zu retten. Doch bei diesem Testlauf bremsen ihn seine Begleiter: Ursula Marx, die Behindertenbeauftragte der Stadt, und Bezirksvorsteherin Mitte Veronika Kienzle.

„Skandalös“, entfährt es Kienzle. Sie traut ihren Augen nicht, erinnert an den tödlichen Unfall einer blinden Frau, die Ende Januar an der Haltestelle Degerloch vom Bahnsteig gestürzt war und von der Stadtbahn überrollt wurde, Marx stimmt empört zu: „Das geht zu weit.“ Und zwar im Wortsinn. Vor allem an dieser S-Bahn-Station, die viele Sehbehinderte auf ihrem Weg zur Blinden-Stiftung Nikolauspflege in der Firnhaberstraße nutzen. Die Deutsche Bahn meint zu dem Mangel: „Die Abschrankung haben wir sofort repariert. Zudem gibt es konzeptionelle Überlegungen, Bahnsteige mit Leitsystemen nachzurüsten.“

Offenbar muss sich auch dieser Konzern erst noch herantasten – an die Welt der Blinden. „Typisch“, sagt Ursula Marx, „die Behinderung wird immer nur mit dem Rollstuhl symbolisiert.“ Der Rest wird kaum wahrgenommen. In diesem Schwarz-Weiß-Raster gibt es keine Grautöne. Und zu wenig Achtsamkeit der nichtbehinderten Menschen.

Entlanghangeln an der Wand

Kaum ein Passant nimmt Hanke wahr, als er suchend die Rolltreppe verlässt. Keiner bietet Hilfe an. Welche Richtung soll er einschlagen? Rechts? Links? Geradeaus? Sein Ziel, die Selbsthilfekontaktstelle Kiss, ist nur fünf Minuten weg, aber nun trennen ihn Welten von der Tübinger Straße 15.

Was in ihm vorgeht, ist leicht nachzuvollziehen – mit einem kurzen Senken der Augenlider. Es eröffnet einem neue Perspektiven in dieser uferlosen Finsternis. Sehende würden jetzt diagonal durch die Passage zum Ausgang eilen. Hanke hangelt sich an der Wand entlang. Der Weg wird zu einem Hindernis-Parcours, einer echten Tor-Tour. Erst bremst ihn die Mülltonne, dann eine Mutter mit Kinderwagen aus. Statt den Weg frei zu machen, giftet sie den Blinden nach der Karambolage an: „Halloooo! Geht’s noch?“

Lieferwagen parken kreuz und quer

Es geht. Mühsam weiter bis zur nächsten Stolperfalle. Sogenannte Kundenstopper, Schilder vor den Läden, die mit Sonderangeboten werben, versperren Hanke den Weg. „Die sind wahrscheinlich nicht mal zugelassen“, ereifert sich Veronika Kienzle. Doch an die Regeln hält sich kaum einer. Kein Bäcker, kein Apotheker. Autofahrer schon gar nicht.

Als Daniel Hanke aus der Unterwelt am Rotebühlplatz 19 auftaucht, warten neue Herausforderungen. Lieferwagen parken kreuz und quer, auch auf den Furchen der Leitlinien. Zeitdruck oder Gedankenlosigkeit der Fahrer? Dem jungen Mann ist es egal. Hanke verliert seinen Gleichmut auch nach einem Zusammenstoß mit einem parkenden Transporter nicht. Er lächelt nur, erntet aber böse Blicke, weil sein Blindenstock den Kotflügel der Karosse touchiert.

Für Ursula Marx ist das Maß jetzt voll. Diese innere Blindheit mancher Mitmenschen gegenüber Behinderten treibt sie um. Ihr dämmert es schon lange: Jede Barriere, selbst wenn sie nur aus Unachtsamkeit im Weg steht, ist eine zu viel. „Wir müssen mehr Bewusstsein in der Bevölkerung schaffen“, sagt sie und schnappt sich spontan den Blindenstock von Hanke. Sie schließt die Augen, stellt ihre übrigen Sinne auf Empfang und watschelt los. Nach nur 50 Metern an den Fassaden entlang in Richtung Querspange hat die Behindertenbeauftragte genug. Sie wischt sich symbolisch mit der Hand über die Stirn und stöhnt: „Ich bin schweißgebadet.“

„Mir fehlte die Leitlinie, die Bordsteinkante“

Blinde Kuh am Rotebühlplatz.

Aber es ist kein Kinderspiel. Es ist eine Zumutung.

Ursula Marx hätte bis zur Marienstraße durchhalten müssen. Von da an helfen feine Rillen in den Gehwegplatten, sich mit dem Stock zu orientieren. Warum das Leitsystem aber ausgerechnet bei der Einmündung in die Tübinger Straße endet, wissen nur die Götter. Eine Baulücke der besonderen Art.

Aber was ist das schon im Vergleich zum nächsten Problem. Die Mischverkehrsfläche in der Tübinger Straße, neudeutsch Shared Space genannt, ist für Blinde wie ein Meer ohne Horizont. Kaum hat Veronika Kienzle ihre Lobrede über die Schönheit des neuen Konzeptes beendet, erlebt sie das nächste Fiasko des Blinden. Daniel Hanke biegt zunächst falsch in die Christophstraße ab, ehe er schließlich sein Ziel erreicht. „Mir fehlte die Leitlinie, die Bordsteinkante“, klagt er vor dem Haus 15: „Die Nivellierung des Straßenraums im Shared Space mag schön aussehen, Blinden raubt es die Orientierung.“

Widerstreit der Interessen

Veronika Kienzle versteht das. Aber was soll sie Rollstuhlfahrern oder Passanten mit Rollator entgegnen? Jene Menschen schätzen den barrierefreien Raum. „Es ist ein Widerstreit der Interessen, der sich nicht auflösen lasst“, sagt Kienzle. Ursula Marx sieht das ein, auch wenn es nichts an ihrer Grundüberzeugung ändert. Ihre Vision ist, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch das schwächste Glied in dieser Menschenkette. „Dieser Rundgang hat mir klargemacht“, sagt Marx nachdenklich, „dass blinde Menschen in Stuttgart von dieser Teilhabe in manchen Bereichen ausgeschlossen sind. Das ist nicht akzeptabel.“

Um im Bild zu bleiben: Wer es sich erlaubt wie Marx und Kienzle, sich für kurze Zeit mit künstlicher Blindheit zu schlagen, dem werden dabei die Augen aufgehen.