Training beim MTV Stuttgart: Auch beim Blindenfußball wird gedribbelt, was das Zeug hält. Foto: Pressefoto Baumann

Fußball spielen, ohne den Ball zu sehen? Unmöglich, möchte man denken. Mulgheta Russom, Alexander Fangmann und ihre Mitspieler vom Blindenfußball-Bundesligisten MTV Stuttgart beweisen das Gegenteil. Wie immer im Leben gilt aber auch hier: Aller Anfang ist schwer.

Stuttgart - Kim Kuttig (21) schüttelt entnervt den Kopf. Schon wieder hat er den Ball verloren. Etwas hilflos stochert er mit dem Fuß auf dem Rasen herum. „Links“, ruft Mulgheta Russom. Kim Kuttig macht einen Schritt zur Seite, plötzlich rasselt es. Da ist er, der Ball. Kim Kuttig zieht ab. Die Richtung stimmt. „Na bitte“, sagt Trainer Ulrich Pfisterer, „geht doch.“ Ein kurzes Lächeln huscht über Kim Kuttigs Gesicht. Es sind die kleinen Erfolgserlebnisse, die ihn zum Weitermachen animieren.

Auch wer selbst noch nie mit geschlossenen Augen Fußball gespielt hat, kann sich gut vorstellen, wie schwierig es sein muss, einem Ball hinterherzulaufen, ohne ihn zu sehen. Aufs Tor zu zielen, ohne genau zu wissen, wo es eigentlich steht. Sich gegen Abwehrspieler durchzusetzen, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen. Seinen Mitspielern muss man blind vertrauen.

"Jetzt muss ich damit leben"

Kim Kuttig will all dies können. Ihm bleibt auch nichts anderes übrig. Der Stuttgarter ist blind. Er hat vor zwei Jahren sein Augenlicht verloren. Grund dafür ist ein genetischer Defekt. „Es kam letzten Endes ganz plötzlich. Jetzt muss ich damit leben“, sagt er. Und da für Kim Kuttig auch Sport zum Leben gehört, hat er sich den Blindenfußballern des MTV Stuttgart angeschlossen. Drei Wochen ist das erst her. Kein Wunder also, das sagen auch seine erfahrenen Mitspieler, dass noch nicht alles funktioniert. „Es ist trotzdem frustrierend, weil ich ziemlich oft Fehler mache“, findet Kim Kuttig. Lukas Smirek, mehrfacher deutscher Meister und erfahrener Nationalspieler, kontert: „Wenn du nach drei Wochen schon so gut wärst wie wir, dann müssten wir doch frustriert sein.“

Wenn Lukas Smirek, Alexander Fangmann, Vedat Sarikaya oder Mulgheta Russom nämlich Fußball spielen, mag man kaum glauben, dass die Nationalspieler alle nichts sehen können. So sehr klebt der Ball beim Dribbling an ihren Füßen. So präzise gehen ihre Schüsse in Richtung Tor. Bis er selbst so weit ist, das weiß Kim Kuttig, ist es noch ein weiter Weg.

„Nur sportlich zu sein reicht nicht“, sagt Ulrich Pfisterer, der Trainer des deutschen Rekordmeisters MTV Stuttgart und Nationalcoach in Personalunion ist. Darum sei es auch so schwierig, Nachwuchs zu finden. „Viele überstehen die Phase, in der sich Kim derzeit befindet, nicht – und hören wieder auf“, sagt der gebürtige Berliner.

Ausschließlich auf das Gehör verlassen

Ein guter sehender Fußballer ist nun mal noch lange kein guter Blindenfußballer. Letztere müssen sich ausschließlich auf ihr Gehör verlassen. Der Ball ist mit mehreren Metallplättchen versehen, in denen kleine Kügelchen für das typische Rassel-Geräusch sorgen. Die Gegenspieler müssen mit einem lauten „voy“ (spanisch: „Ich komme“) auf sich aufmerksam machen, wenn sie sich im Umkreis von drei Metern zum ballführenden Spieler befinden. Wird das „voy“ vergessen, zählt dies als Foul.

Hinter dem gegnerischen Tor steht ein Tor-Guide. Er kann sehen und dirigiert seine Mitspieler durchs Angriffsdrittel. Dank seiner Zurufe können sie die Torposition immer klar lokalisieren. Der Tor-Guide ist neben dem Torwart der Einzige im Team, der sehen kann. Die vier Feldspieler sind komplett blind, wer noch einen Rest Sehfähigkeit besitzt, bekommt eine Augenklappe.

Kim Kuttig fällt die Orientierung auf dem Platz noch ziemlich schwer. Sein Gehör ist noch nicht so geschult wie das von Blindenfußballern, die schon viele Jahre nichts sehen. „Das muss sich noch entwickeln“, sagt er, „ich brauche Routine.“ Ans Aufgeben denkt der Stuttgarter jedenfalls nicht. Denn trotz aller Misserfolge hat er doch Spaß gefunden am Spiel mit dem rasselnden Leder. Und er hat ein großes Ziel. Mit dem MTV Stuttgart in der Blindenfußball-Bundesliga antreten. Ein bisschen Geduld wird Kim Kuttig aber noch brauchen, ehe dieser Wunsch in Erfüllung geht.

An diesem Wochenende werden die MTV-Blindenfußballer noch auf ihn verzichten. In Dortmund steht der dritte Liga-Doppelspieltag an. Mit zwei Siegen, gegen die Gastgeber am Samstag und Würzburg am Sonntag, wäre der Rekordmeister, der am ersten Spieltag spielfrei war, vorne mit dabei. Auf dem Weg zum sechsten Meistertitel darf sich das Team keinen Patzer erlauben.

Eine Woche später reist ein Großteil des MTV-Teams zur Europameisterschaft ins englische Hereford. „Wir können das Ding rocken“, sagt der Stuttgarter Kapitän Mulgheta Russom selbstbewusst. Der Lohn wäre enorm. Die Finalisten sind für die Paralympics in Rio 2016 qualifiziert.

In solchen Dimensionen denkt Kim Kuttig freilich noch nicht. Für ihn ist es schon ein Riesenerfolg, wenn er den Ball mit Schmackes geradewegs in Richtung Tor befördert. Es sind solche Momente, die ihn am Ball bleiben lassen. Und die aufmunternden Worte seiner Mitspieler. Ihnen vertraut er. Blind sozusagen.