Rund 3700 Kinder werden pro Jahr in Deutschland adoptiert. Oft tauchen Probleme auf, wie das Beispiel einer Familie aus Süddeutschland zeigt. Ein neues Gesetz soll Anspruch auf Hilfe geben.
Ulm - Eigentlich seien sie eine ganz normale Familie, sagt Susanne Kern. Papa, Mama, zwei Kinder im Alter von elf und 13 Jahren. „Wir brauchen, lieben und nerven uns. Wir streiten um Handyzeiten und um Jacken, die auf dem Boden liegen. Und wir haben viele schöne Urlaube miteinander verbracht.“ Doch das Familienglück der Kerns ist ein zerbrechliches Gebilde. „Bis heute müssen wir uns eine spürbare Eltern-Kind-Nähe erarbeiten.“
Susanne Kern und ihr Mann sind Eltern per Adoptionsbescheinigung. Sie wollen die Familie schützen und ihren richtigen Namen nicht nennen. Ihre Kinder Hanna und David stammen aus Äthiopien und wurden als Babys von dem Ehepaar aus dem Großraum Ulm adoptiert: Hanna im Alter von einem halben Jahr, ein paar Jahre später David im Alter von 16 Monaten.
Das Zusammenwachsen zu einer Familie braucht oft handfeste Unterstützung
Ein Kind, das von den leiblichen Eltern nicht mehr ausreichend versorgt werden kann, kommt zu einer Familie, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Kind in Liebe großzuziehen. Zwar handelt es sich in Deutschland bei den rund 3700 bis 4000 Adoptionsverfahren jährlich hauptsächlich um sogenannte Stiefkindadoptionen. Doch etwa jedes dritte adoptierte Kind findet in einer komplett fremden Familie ein Zuhause: 2019 war dies bei 1244 von 3744 adoptierten Kindern und Jugendlichen der Fall.
Doch das Zusammenwachsen zu einer Familie braucht neben Hingabe und Geduld auch oft handfeste Unterstützung. Das hat der Gesetzgeber erkannt: Das neue Adoptionshilfe-Gesetz, das am 1. April in Kraft treten soll, sieht für Adoptivkinder, leibliche Eltern und Adoptiveltern einen Rechtsanspruch auf fachkundige Begleitung vor, sofern sie dieses Verfahren wollen. Die Mitarbeiter von Jugendämtern sollen zum Beispiel auf Hilfsangebote anderer Stellen hinweisen und den Kontakt herstellen. Auch Auslandsadoptionen sollen künftig durch eine Vermittlungsstelle begleitet werden.
Selbst Säuglinge bringen oft ihre schwierige Geschichte mit
Für Experten wie Karl Heinz Brisch ist diese Neuerung überfällig: Der Kinder- und Jugendpsychiater von der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht über Bindungen zwischen Eltern und Kindern, was sie stärkt, schwächen oder zerstören kann. Gerade bei Adoptivkindern sind diese Beziehungen besonders fragil: „Selbst die Allerkleinsten sind bei der Adoption kein unbeschriebenes Blatt, sondern bringen ihre Geschichten mit“, sagt Brisch. Schon eine ungewollte und dadurch sehr stressvolle Schwangerschaft kann bestimmte Gene des Kindes aktivieren, die sich negativ auf die geistige und physische Gesundheit auswirken können – erst recht, wenn die Mutter drogensüchtig oder alkoholabhängig ist oder es zu Gewalt in der Schwangerschaft gekommen ist. „Alles, was die Kinder im Mutterbauch erleben, kann sich in ihrer Gehirnentwicklung widerspiegeln.“
Betroffene Kinder können ihre Gefühle nur schlecht regulieren
Verstärkt wird dieser Effekt, wenn das Kind auch nach der Geburt nicht die nötige Zuwendung der Eltern erfährt, wenn Trennungen, Verwahrlosung, körperliche und emotionale Gewalt oder gar sexueller Missbrauch hinzukommen. „Diese Kinder reagieren oft nicht so wie gesunde Altersgenossen, weil sie vor allem in ihrer emotionalen Entwicklung weiter zurück sind“, sagt Brisch. Sie bekommen oft Wutanfälle, werden aggressiv gegen sich und andere, sind schwierig zu leiten.
Brodelnde Kinderwut, gewaltig und so eruptiv, dass sie die ganze Familie erschüttern kann – auch das gibt es noch immer bei den Kerns. Während David deutlich entspannter durchs Leben geht, hat seine große Schwester mehr Probleme, Regeln einzuhalten und sich zu organisieren. Nur mit viel Geduld und Zuwendung seitens der Eltern sowie der Erzieher lernte das Mädchen, sich besser einzuordnen. „Wir müssen Tag für Tag Hanna und David verdeutlichen, was Babys in einer guten Bindung ganz selbstverständlich erfahren: Ich bin beschützt, ich bin geliebt und gewollt – und ich bekomme, was ich brauche“, so die Mutter.
Das Mädchen wurde auf der Straße ausgesetzt
Rückschläge sind da keine Seltenheit: Zwar sucht Hanna nach Geborgenheit und Halt, wehrt sich aber heftig gegen die ersehnte Nähe – aus Angst, diese gleich wieder zu verlieren. Das Mädchen wurde kurz nach der Geburt auf der Straße gefunden und danach immer wieder weitergereicht. Durch das frühere Erleben des immer wieder Verlassenwerdens vertraue sie nur sich selbst, sagt Susanne Kern. David dagegen habe die Trennung von seiner Mutter und seinen Heimaufenthalt besser verkraftet.
Die wenigsten Adoptiveltern sind auf solch dramatische Situationen eingestellt. Bislang gibt es einheitliche Standards nur für den rechtlichen Rahmen einer Adoption, nicht für die Betreuung der Eltern. Das war Sache der Jugendämter, die für die Adoptionsvermittlung zuständig sind. „Deren Begleitung fällt bislang je nach Standort komplett unterschiedlich aus“, bestätigt Brisch. Nicht selten erhalten diese Familien viel zu spät Unterstützung. Ob sich dies mit Inkrafttreten des Adoptionshilfe-Gesetzes schnell ändert, bezweifelt der Kinder- und Jugendpsychiater. Es fehle nach wie vor an Anlaufstellen, die mit ausreichend qualifiziertem Personal besetzt sind, um sich um die Probleme zu kümmern, mit denen Adoptiveltern konfrontiert sind.
In Stuttgart werden Adoptivfamilien auf ihrem Weg engmaschig betreut
Dabei gibt es Vorbilder: Beim Jugendamt Stuttgart etwa dauert es rund zwei bis drei Jahre, bis Adoptiveltern ein Kind in den Armen halten. Und diese Zeit ist angefüllt mit regelmäßigen Seminaren. „Jeder Bewerber sollte sich bewusst machen, ob er einer Adoption wirklich gewachsen ist“, sagt Helga Heugel vom Jugendamt Stuttgart. Auch nach Abschluss des Verfahrens versuchen die Mitarbeiter, zu den Familien Kontakt zu halten. „Wir wollen Hilfen anbieten, wenn die Probleme beginnen“, so Heugel.
Die Kerns hatten sich zeitweise sehr alleingelassen gefühlt: Hilfe, etwa durch das Jugendamt vor Ort, bekam die Familie erst, als sie selbst vorstellig wurde. Das habe viel Mut gekostet. „Man muss sich als Eltern ja erst eingestehen, dass man Hilfe braucht“, sagt die Mutter. Inzwischen haben sich die Kerns ihr eigenes Netzwerk aufgebaut. So konnten sie beispielsweise Hanna eine Therapie ermöglichen, bei der das Mädchen mithilfe von Tieren erlernen konnte, wie sie mit ihren Gefühlen besser umgehen kann.
Die nächste Herausforderung: Die Pubertät der Kinder
Nun steht die nächste Herausforderung im Projekt Familie bevor: die Pubertät der Kinder – und damit die Frage, wie sich die Kinder lösen können, obwohl sie doch gerade dabei sind, sich sicher zu binden. Susanne Kern bleibt zuversichtlich: „Wenn wir in den seltenen ganz entspannten Stunden gemeinsam Fotos anschauen und uns austauschen über alles, was wir schon erlebt haben, wächst das Gefühl der Zusammengehörigkeit.“