Das Ballet de l’Opéra nationale du Rhin bei Proben zu „Nó“. Foto: Nis&For

Viele Jahre stand er in Stuttgart in der ersten Reihe. Nach seiner Bühnenkarriere spannte Ivan Cavallari das Stuttgarter Ballettnetzwerk besonders weit: In Perth leitete er das West Australian Ballet. Seit 2013 ist der charmante Italiener zurück in Europa – und seine Kompanie, das Ballett der Straßburger Oper, einen Besuch im Elsass wert.

Straßburg - „Wo ich hinkomme, ist Baustelle“, sagt Ivan Cavallari im Scherz. Das Ballettzentrum von Mulhouse, durch einen Anbau mit dem historischen Gebäude des Stadttheaters verbunden, verschwindet derzeit hinter einem Gerüst. Hier ist das Ballett der Straßburger Oper zu Hause, das der ehemalige Stuttgarter Solist seit fast zwei Jahren leitet. Ins Elsass kam Cavallari von der anderen Seite der Welt, und auch dort war Baustelle: In Perth hatte er dem West Australian Ballet durch den Umbau einer Fabrik in ein Ballettzentrum zu mehr Platz verholfen.

Ein Millionen-Projekt, verglichen damit ist die französische Baustelle beschaulich. Trotzdem ist ihr Ziel anspruchsvoll. „Seit 40 Jahren ist diese Kompanie in Mulhouse zu Hause, aber keiner hier weiß das“, sagt Ivan Cavallari. Wer wie er den Rückhalt des Balletts in Stuttgart erlebt hat, versteht, warum sich das im Elsass nun ändern soll. Also kämpft er an vielen Fronten dafür, seine Kompanie durch eine eigene Identität zu stärken – mit kleinen Erfolgen. Jetzt werden nicht nur die beiden in die Jahre gekommenen Ballettsäle frisch erstrahlen, die Menschen in der Stadt sollen es auch erfahren. „Ich möchte das Haus öffnen, mit Schaukästen die Kompanie nach draußen bringen und die Menschen hereinbitten.“

Frische Farbe und zusätzliche Notausgänge reichen allein nicht aus, auch das weiß Ivan Cavallari. Deshalb würde er gerne die Bühne im Haus, das alte Theater de la Sinne, zum identitätsstiftenden Ort für seine Tänzer machen. Doch wo, wann und wie oft sie auftreten, wird von der Oper in Straßburg geregelt. Nur 40 Vorstellungen pro Saison gehören dem Ballett, jede Produktion erlebt fünf Aufführungen in Straßburg, drei in Mulhouse, zwei in Colmar. Nur eine Produktion, bedauert Cavallari, begleite das Orchester. „Die Oper diktiert mir die Termine. Im nächsten Jahr haben wir zum Beispiel zwischen zwei Premieren nur drei Wochen Vorbereitung“, sagt der Ballettdirektor, und man ahnt, dass die Baustelle draußen symbolisch steht für seine eigene Situation.

Um Weichen neu stellen zu können, will Cavallari mehr Unabhängigkeit. „Ich will hier etwas aufbauen und nicht nur den Stuhl warm halten.“ In Perth hat er eine von 19 auf 32 Tänzer gewachsene Kompanie hinterlassen. Auch für die anstehenden Verhandlungen um die Verlängerung seines Vertrags in Straßburg hat der Italiener, der klare Worte liebt, ebenso klare Vorstellungen.

Von außen betrachtet, läuft alles wunderbar für den neuen Mann am Rhein. Das Ballett der Straßburger Oper hat Cavallari klassischer ausgerichtet. „Allein der Name ist Verantwortung. Wir sind eine der wenigen Kompanien in Frankreich, die regelmäßig auf Spitze tanzt“, sagt er. Das Publikum geht den Weg mit, die Auslastungszahlen steigen. Das Fernsehen zeichnet Produktionen wie Scholz’ „La création“ auf. Die Fachwelt in Frankreich jedoch, bedauert Cavallari, „hat den Geschmack für diese Ästhetik verloren“. Die Festivals dominiere die zeitgenössische Tanzszene. „Ich beobachte hier einen Komplex der Modernität“, sagt er, „mit Zwang zum Zeitgenössischen.“

Auch manchen Tänzern war das Mehr an Klassischem zu viel. Doch die, die geblieben sind, arbeiten hart an sich. Wer das morgendliche Training beobachtet, lernt ein Ensemble kennen, das vom ehemaligen Stuttgarter Starsolisten, der an diesem Tag selbst den Ballettmeister gibt, zupackende Korrekturen einfordert. Die Kommandos kommen schnell, werden ebenso umgesetzt. Klassische Technik will Cavallari so in der zuvor zeitgenössisch ausgerichteten Kompanie fördern. „Keine Angst!“, macht er einer Tänzerin Mut. „Du kannst eine Pirouette nicht mit einem Zögern beginnen.“

Neoklassisches von Uwe Scholz, dazu neue Sichten auf das Klassische, wie sie ein Marco Goecke wagt: Für Ivan Cavallari ist ein interessantes Repertoire auch Medizin für den Tänzerkörper. Das Stuttgarter Netzwerk nutzt er, mit Douglas Lee und Bridget Breiner verhandelt er über Neues. Daneben setzt er mit neuen Versionen von Klassikern Akzente und sorgt mit ungewöhnlichen Produktionen wie Mario Pistonis „La strada“ und dem eigenen „Pinocchio“ für Exklusivität. „Ja, das ist eher etwas für große Kompanien. Aber ich habe nur die – und die will ich nicht kleindenken“, sagt Cavallari.

Schlimm genug, dass ihre Stärke von 33 Tänzern derzeit nur auf dem Papier existiert. 23 stehen ihm aktuell zur Verfügung; Verletzungen, Mutterschutz, Übergangsregelungen für ältere Tänzer sind der Grund. Schon nach sechs Jahren, so Cavallari, seien Tänzer in Frankreich unkündbar. Als Ballettdirektor weiß er, welche Stücke die Stärken seiner Kompanie zur Geltung bringen. Die brasilianische Choreografin Deborah Colker hat für sie „Nó“ neu gefasst. Und das Zögern vom Training ist ganz verschwunden, als sich die Tänzer in diesen Reigen stürzen, der Spielarten von Lust und Leidenschaft provokant inszeniert. „Nó“ heißt Knoten, viele Seile sind bei den Proben im Spiel, noch mehr bei der Premiere an diesem Donnerstag. Trotz akrobatischer Herausforderungen haben die Tänzer die strenge Ästhetik Colkers verinnerlicht. Ein Stück das Lust macht, mehr von ihnen zu sehen.

Knoten hat Ivan Cavallari noch einige zu durchschlagen. Da ist zum Beispiel das der Kompanie angeschlossene Centre Choréographique Nationale, eines von 19 Zentren, das choreografische Kapazitäten vernetzt. Doch statt Künstler, die nur kurz da sind, will Ivan Cavallari längerfristige Projekte, die sowohl die Aufmerksamkeit des Publikums als auch das Profil seiner Kompanie schärfen. Viel zu tun also im Elsass. Dass sich sein Engagement lohnt, sieht der Stuttgarter auch am Ruf der Kompanie unter Tänzern: 1000 Bewerber meldeten sich zuletzt auf drei freie Stellen. Nach der Aufbauarbeit soll sein Ensemble nun vermehrt mit Choreografen arbeiten. Vielleicht kommt dann auch Bewegung in Strukturen und Türen, die sich bislang nicht öffnen wollten.