Seit 2014 liegt Awdijiwka nahe der Front. Die ukrainischen Stellungen halten, als die vom Kreml groß angelegte Militärinvasion Ende Februar 2022 beginnt. Die russische Offensive scheitert, dafür gehen Granaten, Bomben und Raketen auf die Stadt nieder. Fast niemand bleibt in diesem Wahnsinn.
Marina hat eine ausgesprochen beruhigende Ausstrahlung. Selbst Hund und Katz kommen bei ihr miteinander klar. „Na ja, etwas misstrauisch schauen die Katzen dann doch bei den anderen Vierpfotern“, sagt die 53-Jährige. Sie knuddelt zwei Hunde, die auf sie zutraben. Hinter ihnen tappt ein Kater. Marina nimmt ihn hoch, das Tier schnurrt bald in ihrem Arm. Ein Bild, das von Gemütlichkeit erzählt. Doch es ist nur ein Schlagschatten, der täuscht. Drum herum gibt es wenig zu sehen, zu dem das Wort Gemütlichkeit passen würde. Marina ist Helferin. Hier unten im Keller eines Wohnblocks, gebaut zu Zeiten von Chruschtschow in den 1950er und 60er Jahre, finden Menschen Zuflucht. Vor den russischen Granaten etwa, die in aller Regelmäßigkeit in der Stadt einschlagen.
Im schützenden Keller einer ukrainischen Hilfsorganisation gibt es das, was in den Wohnungen und anderen Kellern fehlt. Elektrischen Strom, ein W-Lan für das Internet und Hilfsgüter. Und wenn die Temperaturen weiter sinken: Wärme. „Wir haben Medikamente, Wasser, Lebensmittel, Waschmaschinen und natürlich immer heißen Tee, Kaffee und Kekse“, zählt die 53-Jährige auf.
Bedrückende Stille
Marina hat eine warme Stimme, ein gütiges und freundliches Gesicht. Ein Blick auf den Kellerraum hinter ihr wirkt ernüchternd. Gut 20 Menschen sitzen hier auf Stühlen mit schwarzen Kunststoffbezug. Es herrscht eine bedrückende Stille. Drei, vier Männer lehnen sich an Pfeiler aus Stahl, die zusätzlich die Decke abstützen. Falls das Haus einen Treffer bekommen sollte. Der Raum ist notdürftig eingerichtet. Es gibt noch drei weiße Tischen sowie eine Theke für die Hilfsgüterausgabe.
Draußen scheint die Sonne. Doch kein natürliches Licht fällt in den Raum. Die Kellerfenster sind zur Sicherheit mit schweren Holzplatten vernagelt, davor hängt eine ukrainische Fahne und eine weitere mit dem Wappen von Irpin, die Unterstützer mitgebracht hatten. „Die Zeit schleicht zäh dahin“, sagt ein Mann, der sich die Mütze tief in die Stirn gezogen. Nur das Zeitgefühl geht im künstlichen Licht des Schutzraum schnell verloren.
Der Krieg hat die Anwesenden ausgezehrt. Hagere Gesichter, traurige und müde Augen blicken den ungewohnten Besucher an. Ein Rentner ist mit seinem Smartphone online gegangen und tippt mühsam Nachrichten an seine Verwandten hinein. Langsam kreist sein Finger suchend über dem Display. Es sind kaum Junge, die hier zu sehen sind, deutlich mehr Männer als Frauen. 1800 Menschen leben noch offiziell in der Stadt, die 2019 rund 35 000 Einwohne zählte. Eltern ist es per Gesetz verboten, ihre Kinder in dieser gefährlichen Situation in der Stadt zu lassen.
Eine Puppe mit blondem Haar
„Wir haben schwere Zeiten hinter uns. Einen kalten Winter in Kellern, die Einschläge von Bomben, Raketen, Granaten“, sagt die 53-Jährige. „Aber was soll’s, wir versuchen zu lächeln“, schiebt sie hinterher. Dann stellt sie den Kater auf seine vier Pfoten, läuft zur Theke und gibt weiter Kaffee und Tee aus. Die Menschen hier in Stich zu lassen, für Marina ist das keine Überlegung wert.
Geht man über glatte Betonstufen wieder ans Tageslicht, ist schnell verständlich, was Marina mit schweren Zeiten meint. Kaum ein Haus im Umfeld, dass nicht beschädigt oder zerstört ist. Gleich ums Eck glotzen leere Fensterhöhlen auf die Straßen. Ragen Balken eines ausgebrannten Dachs in den Himmel. Keine 500 Meter weiter rauchen noch die Trümmer nach einem Einschlag in einem Hochhaus. Ganze Stockwerke sind nach unten gebrochen. Jetzt steht es da wie ein verkohltes Puppenhaus, völlig offen auf einer Seite. Ein gewaltiger Schutthaufen türmt sich im Bereich des Erdgeschosses auf. Darüber wie ein grauer Schleier der Rauch.
Nicht weit entfernt ein Supermarkt. Ein Blick durch ein zerbrochenes Schaufenster fällt auf leere Regale im Halbdunkel, Kassen stehen wie im Nichts. Der große Kindergarten in 300 Meter Entfernung: zerstört. Eine Puppe mit blondem Haar und ein pinkfarbenes Stofftier liegen nahe dem Eingang. Sie erzählen davon, dass hier einmal Kinder gespielt haben. Ein Schulgebäude: zerstört. Der Basar: zerstört. Die Metallverkleidung der Buden nach einem Treffen zusammengeknüllt wie Papier. Die nächste Häuserzeile an der Straße verrußtes Mauerwerk, eingefallen: Alles ist zerstört, zerstört, zerstört. Es herrscht eine beklemmende Stille. Keine Autos sind zu hören. Keine Passanten zu sehen. Keine Kinder, die lärmen. Nur ab und an dumpf in der Ferne Schüsse der Artillerie.
Der Wahnsinn des Beschusses
Die Menschen von Awdijiwka mussten seit Kriegsbeginn im Jahr 2014 einiges ertragen. Die Stadt mit ihrer großen Kokerei war immer wieder umkämpft. Die Frontlinie im ehemaligen Industriegebiet galt für viele Ukrainerinnen und Ukrainer seit Jahren als ein Begriff für den Krieg im eigenen Land: Promka. Hier wurde jahrelang in einem von Europa vergessenen Krieg gekämpft und gestorben. Die Kinder in Awdijiwka wussten schon vor der Invasion 2022, wie sich das Bellen eines Maschinengewehrs anhört. Wie es klingt, wenn eine Granate abgefeuert wird oder sie einschlägt.
Die Schützengräben sind die gleichen geblieben. Sie ziehen sich auch heute durch die Ruinen von Hallen und Fabrikgebäuden der Promka. Den ukrainischen Verteidigern gelang es, die Linie zu halten, als Russland am 24. Februar 2022 die Panzer zur großen Invasion rollen ließ. Eine Schmach für die Aggressoren, Donezk, seit 2014 unter russischer Kontrolle, liegt keine 17 Kilometer entfernt. Awdijiwka blieb unter Kontrolle der ukrainischen Verteidiger. Doch die Menschen, die dort lebten, sind fast alle verschwunden. Vor dem Wahnsinn des Beschusses geflohen.
Ganze Siedlungen sind nur noch Schutthaufen
Die russische Invasion scheiterte in diesem Frontabschnitt von Anfang an. Die Soldaten von Machthaber Wladimir Putin ließen die Stadt und ihre Bewohner dafür bitter bezahlen. Immer wieder gerät die Stadt unter Beschuss. In Frontnähe haben sich Leere und Zerstörung ihren Raum erobert. Millionen Menschen sind vor den Kämpfen geflohen. Städte wie Bachmut bestehen nur noch aus Trümmerfeldern. Ganze Siedlungen sind nur noch Schutthaufen.
Eine Handvoll geöffneter Läden, das ist noch das Wenige an Normalität, das in Awdijiwka geblieben ist. Von Hilfsorganisationen erhalten die Menschen Grundnahrungsmittel. Wenn es um zusätzliches Obst, Dosenfleisch und frisches Gemüse geht, ist man bei Ina genau richtig. Die 50-Jährige arbeitet in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Hinter ihrem Rücken reihen sich die Regale bestückt mit Dosen, Nudel-Tüten, Kaffee-Packungen und Einmach-Gläsern. „Seit 2014 kennen wir in Awdijiwka den Krieg nur zu gut. Aber dass es so schlimm wird, ich hätte es nie gedacht. Der Winter wird hart werden. Trotzdem will ich die Menschen hier nicht im Stich lassen.“
Rosen und eine schlimme Nachricht
Ein Mann kommt aufgeregt in den Laden. Nicht weit entfernt würde nach einem Einschlag eine Tote liegen, erzählt er. „Vermutlich schon seit zwei, drei Tagen. Kann irgendjemand hier die Polizei anrufen, damit sie geborgen wird?“, fragt der hagere Mann. Bevor er mit seinem Fahrrad weiterfährt. Ein Soldat im Laden verspricht, sich zu kümmern. Ina blickt erschüttert. Was für eine schlimme Nachricht.
Dabei hatte der Tag so gut begonnen. Ein Kunde hatte Ina und ihrer Kollegin Rosen vorbeigebracht. Gefreut hatten sich die beiden Verkäuferinnen riesig über das Dankeschön. Die Rosen stehen mitten auf der Verkaufstheke in dem Raum. Trauer, Angst – und Hoffnung liegen oft nahe beieinander in Awdijiwka.