Die VfB-Elf spielt so gut wie lange nicht mehr. Der ehemalige Nationalspieler Hansi Müller hat dabei einen außergewöhnlichen Erfolgsfaktor ausgemacht. Wir erklären, um welche Spezialbegabung es sich handelt.
Angelo Stiller hat nur kurz nach oben geschaut und den freien Raum sofort erkannt. Auf den Ball musste er dabei nicht achten, das Spielgerät kontrollierte der Mittelfeldspieler mit einem Tick des Fußes. Was danach folgte, begeisterte nicht nur Hansi Müller, den früheren Edeltechniker. Wie aus dem Fußgelenk geschüttelt passte Stiller die Kugel über 40 Meter in den Lauf von Chris Führich. Der Stürmer, bestens bedient, hielt den Fuß hin – 3:0 für den VfB Stuttgart gegen den FC Augsburg zum Jahresabschluss.
Eine Szene mit Symbolcharakter für Müller. Weil die Stuttgarter in dieser Fußballsaison mit Angelo Stiller, Enzo Millot, Hiroki Ito, Dan-Axel Zagadou und Maximilian Mittelstädt auf links gedreht sind, wie die 66-jährige VfB-Legende festgestellt hat. „Bis zu der Verletzung von Hiroki Ito hat der VfB über fünf Spieler mit gutem linkem Fuß in der Stammformation verfügt. Das ist außergewöhnlich. Normal sind ja nur ein oder zwei Linksfüßer in der Startelf“, sagt Müller, der selbst zu den heiligen Linken im Trikot mit dem roten Brustring zählt.
Die heiligen VfB-Linken
Buffy Ettmayer gehört noch in diesen erlauchten Kreis, ebenso Asgeir Sigurvinsson und Krassimir Balakov. Virtuosen wie Müller. Dazu gesellen sich der Vollspannkracher Thomas Hitzlsperger oder Markus Elmer, der inoffizielle Erfinder des Offensivverteidigers. Alles ruhmreiche Geschichte, und alle hatten den Dreh mit links raus.
In der Gegenwart stecken im weiß-roten Kader jedoch gar nicht mehr Linksfüßer als bei anderen Bundesligisten. Das Besondere ist, dass sie nahezu alle gleichzeitig auf dem Platz mitwirken. Außer den fantastischen Fünf führt der VfB noch den dauerverletzten Nikolas Nartey als Linksfuß sowie Jamie Leweling als beidfüßig an. Ein Durchschnittswert, und statistisch verhält es sich so, dass nur zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung Linksfüßer oder Linkshänder sind – das macht sie mit ihrer Spezialbegabung begehrt.
„Mit so vielen starken Linksfüßern ist die VfB-Elf für den Gegner deutlich unberechenbarer. Sie ist auch variabler“, sagt Müller. Denn es eröffnet Sebastian Hoeneß taktische Möglichkeiten, da sowohl Ito als auch Zagadou aus der Abwehr heraus eine präzise Spieleröffnung praktizieren. Da wären andere Trainer schon über einen Innenverteidiger mit dieser Qualität froh. Zumal Ito zusätzlich als Linksverteidiger überzeugt hat. Als erster Nachfolger von Borna Sosa (Ajax Amsterdam), der ebenfalls mit einem feinen linken Füßchen ausgestattet ist.
Die Flanken des Kroaten vermisst in Stuttgart bisher allerdings niemand, weil nach Itos Ausfall plötzlich Mittelstädt gut in Schuss war und die VfB-Mannschaft auf andere Art bereichert: mit seiner Zweikampfstärke, mit seiner Dynamik, mit seinem linken Fuß, der weniger kunstvoll, aber sehr geradlinig in Gebrauch ist. Das erweitert das schwäbische Repertoire in einer Weise, die sich bis nach Berlin herumgesprochen hat. In der Hauptstadt herrscht vor allem bei Hertha BSC Verwunderung, da sie einen solch starken Mittelstädt wie aktuell dort in vielen Jahren nicht erleben durften.
Auch Stiller stand auf seiner vorherigen Station bei der TSG Hoffenheim nicht so sehr im Zentrum des Geschehens. Beim VfB ist der 22-Jährige jedoch der Herr über die Passmaschine. Er wirft sie an, er hält sie am Laufen, er bestimmt den Rhythmus. Das alles macht Stiller mit links. Unabhängig davon, ob er ein oder zwei Gegner im Rücken spürt. Der Mittelfeldakteur ist stets anspielbar. Dabei agiert Stiller so selbstverständlich, dass sich der ehemalige Nationalspieler Müller an Helmut Schön erinnert fühlt: „Der frühere Bundestrainer hat damals vor der WM 1978 zu uns gesagt: Die wirklich großen Spieler machen die einfachen Dinge besonders gut. Dieser Satz gilt auch heute noch.“
Was sagt die Wissenschaft?
Für Stiller – und immer mehr für Millot, der seine Ball- und Körperbeherrschung mit Effizienz verbindet. Der Franzose schlängelt sich durch die gegnerischen Reihen und spielt Steckpässe, die selbst die Mitspieler überraschen können. „Vielleicht lässt sich das Ganze nicht wissenschaftlich belegen, aber aus meiner Erfahrung haben Linksfüßer ganz andere Bewegungsabläufe als Rechtsfüßer. Mit ihnen kannst du andere Spielzüge initiieren. Das ist ein Vorteil“, sagt Müller.
Wissenschaftlich fundiert ist dagegen, dass Linksfüßer in der Lage sind, „schneller zu reagieren und einen Schuss präziser zu platzieren, da Motorik und Wahrnehmungsvermögen beim Linksfüßer von der rechten Gehirnhälfte gesteuert werden“. Und die rechte Gehirnhälfte ist besser durchblutet. Sie gibt dadurch stärkere Impulse. Das ergab bereits vor Jahren eine Studie der Psychologin Johanna Barbara Sattler. Sie ist Expertin für Linkshänder – und sollte sich vielleicht mal ein VfB-Spiel mit Hansi Müller anschauen, dem Spezialisten für Linksfüßer.